Justiz und Fiktion

Recht als Gegenstand der Literatur und Literatur als Gegenstand des Rechts

Von Gertrud Maria RöschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Maria Rösch

Topos und Feld

Das Thema Literatur und Recht enthält eine beinahe unüberschaubare Fülle von Aspekten, die hier einmal versuchsweise zwei großen Bereichen zugeschlagen werden sollen: Recht als Gegenstand der Literatur und Literatur als Gegenstand des Rechts. Im ersten Fall wären Recht beziehungsweise auch Gerechtigkeit und ihre alltägliche Erscheinungsform, die Justiz, Thema beziehungsweise Topos  fiktionaler Texte (um diese allein soll es gehen), während im zweiten Fall Grenzen zwischen – mit Pierre Bourdieu gesprochen – dem Feld der Literatur und des Rechts vermessen werden.

 Juristische Topoi in der Literatur

Unter die juristischen Topoi fallen allen voran die wuchtigen Thematisierungen von Recht und Gerechtigkeit, die Friedrich Schiller in einer Rede im Juni 1784 in Mannheim so umschrieb: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schweigt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl“ (Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet). Die Einforderung der Gerechtigkeit wird zu einem hohen – nicht dem einzigen! – Ziel des Schreibens. In solchen Fällen steigert der Text mit seinen ureigensten narrativen Mitteln die Verlebendigung und die Einfühlung in ein Geschehen; es gilt, den Leser zu bewegen und sein Urteil herauszufordern gegen eine defiziente Rechtspflege. In Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas (1808) beginnt die Handlung mit diesem schneidenden Gegensatz zwischen verletztem Rechtsgefühl und verkommener Rechtsprechung, jedoch gelangen am Ende beide zur Deckung. Dieser Erzählung wie einigen der nachfolgenden Texte könnte leicht der Vorwurf anhängen, sie bedienten die „poetische Gerechtigkeit“. Der Begriff  deckt den weiten Bereich dessen, wie in der Literatur Gerechtigkeit wirkt oder zum Erscheinen gebracht wird. Figuren werden je nach Verdienst belohnt oder bestraft, Autoren verfahren wie Richter: „Die Poesie übermittelt dem Leser die Grundsätze der göttlichen Gerechtigkeit und befestigt ihn im Glauben an sie“, so Wulf Segebrecht. Jedoch wird sich genau diese Funktion umkehren: Die Texte bringen eben nicht mehr Gerechtigkeit zur Anschauung, sie zeigen vielmehr die Vergeblichkeit oder sogar Absurdität des Strebens danach.

Franz Kafkas Der Proceß (1925) muss hier genannt werden, wenngleich sich die justizkritischen Elemente am Rande der Gespräche, Begegnungen und Verzögerungen dieser labyrinthischen Handlung zeigen. Zentral für die justizkritische Literatur sind hingegen die Romane von Arnold Zweig, Jakob Wassermann und Lion Feuchtwanger. In Zweigs Weltkriegsroman Der Streit um den Sergeanten Grischa (1928) setzt sich die Militärmacht gegen die Wahrheit durch, so dass der unschuldige Grischa erschossen wird. Wassermann erzählt in Der Fall Maurizius (1928), wie der Sohn des Oberstaatsanwalts Andergast dessen Justizirrtum beweisen kann und der fälschlich inhaftierte Maurizius freikommt; jedoch ist dieser nach der langen Haft vereinsamt und orientierungslos und begeht Selbstmord, während Andergast einen Schlaganfall erleidet. In Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz’ (1930) wird das planvolle Falschurteil gegen den Kunsthistoriker Martin Krüger als Indiz einer insgesamt autoritären und rechtskonservativen Politik dargestellt. Robert Musil greift auf den Fall des Zimmermanns Christian Voigt im Wien des Jahres 1910 zurück und verwandelt ihn in die Figur des Sexualtäters Moosbrugger in Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32); ebenso hatte Alfred Döblin einen Berliner Kriminalfall der 20er Jahre in Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (1924) zum Thema gemacht. In Joseph Roths Das falsche Gewicht (1937) erscheint das Recht als eine zwiespältige Aufgabe, denn die vom Eichmeister Eibenschütz personifizierte Rechtlichkeit wird zum Auslöser seiner Isolation und seines persönlichen wie moralischen Verfalls. In einem klassischen Text vieler Schulbücher, Heinrich Bölls Die Waage der Baleks (1952), kehrt die falsch geeichte Waage als Symbol der Gerechtigkeit unerwartet wieder.

In epischen Texten bleiben Strafprozesse bis in die Gegenwart ein wichtiger Teil des Handlungsablaufs, so in Friedrich Dürrenmatts Justiz (1985), der zu leicht als Kriminalroman beiseite geschoben wird.  Der junge Rechtsanwalt Felix Spät soll auf Bitten des Häftlings Kohler, der den Germanisten Adolf Winter erschossen hat, den Fall nachrecherchieren und seine Unschuld beweisen. Tatsächlich wird der Fall neu verhandelt, denn es taucht die dubiose Figur des Dr. Benno auf, der zusammen mit Winter Kohlers Tochter Helene vergewaltigt hat. Benno bringt sich um, Kohler kommt frei. Spät jedoch hat die Ergebnisse seiner Recherchen verkauft und kommt in der Folge herunter, verliert seine Anwaltszulassung und stirbt zerrüttet. Alle Figuren und der Versuch, Gerechtigkeit zu schaffen, stehen in einem zweifelhaften Licht; sogar Helene, das Opfer, sagt am Ende, es gebe „Fälle, wo die Justiz ihren Sinn verloren habe, zur bloßen Farce werde.“ Ganz ähnlich fällt das Fazit in zwei Romanen Martin Walsers aus, denen jeweils eine Suche nach Gerechtigkeit oder Wahrheit zugrunde liegt. In  Finks Krieg (1996) wird Stefan Fink, der mit falschen Behauptungen seines Amtes enthoben wurde, zwar rehabilitiert, jedoch haben sich alle Freunde und seine Familie von ihm abgewandt. In Tod eines Kritikers (2002) wird der Autor Hans Lach verhaftet, weil er den Autor André Ehrl-König umgebracht haben soll – als dieser wieder auftaucht, löst sich der Fall auf.  Ein Thema von großer Tragweite, die Strafverfahren gegen NS-Verbrechen, wählt Bernhard Schlink in Der Vorleser (1995). Diese Erzähltexte vermögen „dem Juristen Stoff für dessen Nachdenken und Klassifizieren zu liefern“, so hatte es Dürrenmatt 1969 in seinem Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht ausgedrückt. Im Leser wiederum lassen diese Texte Unbehagen zurück, das den Wunsch und die Vorstellung von Gerechtigkeit wach hält.

In Erinnerung zu rufen sind aber auch die klugen Sachwalter des Rechts wie Rechtsanwalt Geyer, der in Lion Feuchtwangers Erfolg seine unwiderlegbaren Ratschläge voll Understatement mit den Worten einleitet: „Ich stelle anheim …“, oder sein Kollege Mühlheim in Die Geschwister Oppermann, dem es gelingt, Gustav Oppermanns Vermögen früh genug ins Ausland zu transferieren und später ihn selbst aus einem Arbeitslager freizubekommen.

In tiefgreifender, weil struktureller Parallele steht das analytische Drama zur Gerichtsverhandlung, weil in beiden ein Geschehen in der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt und aufgeklärt werden muss. Diese inszenierte Wahrheitsfindung beginnt mit Sophokles’ König Ödipus und führt weiter zu Heinrich von Kleists Transponierung in die Komödie in Der zerbrochne Krug (1808), weiter zu Gerhart Hauptmanns Der Biberpelz (1893), zu den Stücken Bertolt Brechts (Furcht und Elend des Dritten Reiches 1938/39, Das Verhör des Lukullus 1939, Der Kaukasische Kreidekreis 1949), zu Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame (1956) und schließlich zu Peter Weiss’ Stück Die Ermittlung (1965), in dem er aus den Dokumenten des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963-65), den er selbst mitverfolgt hatte, Dialoge und Chorpartien voll grauenhafter Details montiert. Ähnlich dem Geschichtsdrama könnte man vom „Gerichtsdrama“ als einem thematischen Genre sprechen. Aber die Analogie liegt tiefer in der Gattung verankert. Gerichtsverhandlung und klassisches beziehungsweise aristotelisches Drama sind verbunden über eine strukturelle Analogie, die in König Ödipus idealtypisch ausgeprägt ist: Es ist die Suche nach der Wahrheit, die erst im Laufe des Geschehens hervortritt!

Damit sind die Rechtstopoi keineswegs erschöpft. Sie umfassen auch die Justizkritik in Gestalt ihrer Vertreter. Den gültigen körperlichen Ausdruck als fürchterliche Juristen verlieh ihnen Honoré Daumier und nach ihm über vierzig Jahre hinweg die deutsche Satirezeitschrift Simplicissimus. Mit menschlichen Schwächen, aber respektvoll zeichnet sie Benno Hurt in seinen Erzählungen Der Samt der Robe (2002), während Ludwig Thoma (in der Erzählung Der Vertrag) die Zunft, der er qua Studium selbst angehörte, stellvertretend charakterisierte: „Der königliche Landgerichtsrat Alois Eschenberger war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstande.“Beide, Hurt und Thoma, gehören in die lange und honorige Reihe der Dichterjuristen – den Begriff prägte Eugen Wohlhaupter durch seine dreibändige Sammlung (1953-57). Johann Fischart steht dort mit Rudolf Weckherlin;  Johann Wolfgang von Goethe, Franz Grillparzer und Theodor Storm waren Söhne, die zunächst einmal den Vätern beruflich nachfolgten. Maximilian Klinger, Heinrich von Kleist und Johann Nestroy verbindet dieser Beruf mit E.T.A. Hoffmann und Franz Kafka. Herbert Rosendorfer, Bernhard Schlink, Georg M. Oswald, Ferdinand von Schirach und – bislang einzige Frau – Juli Zeh thematisieren auch literarisch ihren anfangs gewählten Beruf.

 Recht und Literatur als gesellschaftliche Systeme

Von E.T.A. Hoffmann heißt es stets, er habe beide Sphären zur Deckung bringen können, indem er als Autor Hervorragendes geleistet habe und ein geachteter Jurist gewesen sei. An seinem Werk und zumal an seinem Märchen Meister Floh (1822) mit dem Rechtsbeuger Knarrpanti als Figur wie an seiner Biographie ließen sich folglich grundlegende Konfliktlinien zwischen den Feldern Recht und Literatur aufzeigen. Die erste Konfliktlinie lässt sich summieren unter Zensur, die zweite unter der Praxis des verschlüsselnden Schreibens. Beide sollen nun an der Literatur des 20. Jahrhunderts beleuchtet werden.

„Eine Zensur findet nicht statt.“ Dieser lapidare Satz aus Art. 5 des Grundgesetzes stand schon in der Verfassung der Weimarer Republik (dort Art. 118) und beendete die vielfachen Einschränkungen im Wilhelminischen Kaiserreich, die als Vor- oder Nachzensur wirkten; in zahlreichen Staaten kann dies auch in der Gegenwart der Fall sein, wenn religiöse oder staatliche Institutionen sich angegriffen sehen. Die lapidare Aussage aus Art. 5 weckt für die Rechtssituation in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 pauschale Erwartungen, die nicht darüber hinweg gehen können, dass sich an der Grenze von Literatur und Gesellschaft weiterhin Konfliktpotential sammelt. Statt aber von Zensur wäre eher von Diskurskontrolle zu sprechen, die durch eine Mischung von politischen Meinungen, ökonomischen Interessen (etwa an Leser- bzw. Einschaltzahlen) und von maßgeblichen Gerichtsentscheidungen zustande kommt und im Einzelfall auf literarische Texte durchschlägt. Der literarhistorische und juristische Präzedenzfall für diese Diskurskontrolle ist das Verbot des Romans Mephisto (1936) von Klaus Mann, der 1963 erneut erscheinen sollte. In der gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen 1964 (Hamburger Landgericht) bis 1971 (Bundesverfassungsgericht) waren zwei Grundpositionen abzuwägen: der Schutz der Kunstfreiheit und der Schutz der Persönlichkeitsrechte (konkret die Person des 1963 verstorbenen Schauspielers Gustaf Gründgens, der in der Hauptfigur Hendrik Höfgen verhüllt dargestellt war). Die Verfassungsbeschwerde des Verlegers Berthold Spangenberg wurde abgewiesen, damit war 1971 das Erscheinungsverbot unwiderruflich. Allerdings wird der Roman seit 1981 in der Bundesrepublik Deutschland durch den Rowohlt-Verlag publiziert, weil der einstmalige Kläger von einer weiteren Durchsetzung des Urteils absieht.

Das Mephisto-Urteil dient bis heute als Orientierung in ähnlich gelagerten Fällen. Dazu gehören Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers (2002), der einen heftigen Streit in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auslöste, Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens (2003) und vor allem Maxim Billers Roman Esra (2003), der durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe vom 13. Juni 2007 verboten wurde. Billers Roman fällt in die Kategorie, die man gemeinhin als „Schlüsselliteratur“ bezeichnet. Gemeint sind damit „literarische Werke fiktionalen Charakters, in denen ‚wirkliche‘ Personen und Begebenheiten mittels spezifischer Kodierungsverfahren verborgen und zugleich erkennbar gemacht sind“ (so Klaus Kanzog im „Reallexikon“, 2003). Indem ein Text durch Signale die referentialisierende, d.h. auf Wirklichkeitsanspielungen ausgerichtete Lektüre erlaubt, ist die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität überschritten. Der Text ragt über seine Anspielungen in die Lebenswelt seiner Leser hinein. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen verschlüsselt bzw. verdeckt integrierter Wirklichkeit in der Literatur ist längst überfällig, hält man sich nur die ungebrochene Produktivität dieser Schreibweise vor Augen. Bei Schlüsselliteratur geht es nicht um das Auffinden der linearen Ähnlichkeiten zwischen Fakten und Fiktion, sondern um eine Herausarbeitung der narrativen Strategien, mit denen authentische Wirklichkeit in Fiktion überführt wird. Der enge Bezug von fiktionalem Text und historischer Tatsache löst fast immer  eine Diskussion um den Rang eines Textes aus, mit der auch die Grenzen zwischen den beiden Feldern Literatur und Recht (bzw. Gesellschaft) gezogen werden. Eine Literatur, die sich nicht auf diese Konfliktpunkte mit der Gegenwart einlässt, versäumt ihre Wirkungsmacht und ihre Chance auf Einmischung. Der Preis ist unvermeidlich die Anstrengung, die Balance zwischen Literatur und Recht immer neu zu adjustieren.