Die Allgegenwart des Realismus

Über Moritz Baßlers „Deutsche Erzählprosa 1850-1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moritz Baßler hat mit „Deutsche Erzählprosa 1850-1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren“ ein inhaltsschweres Buch vorgelegt – die 416 Seiten sind eng bedruckt! Im Laufe seiner Darstellung bietet Baßler viele scharfsinnige Werkdeutungen. Besonders anregend sind diese, wenn er sich ähnelnde Werke oder Stoffe vergleichend betrachtet. Etwa legt Baßler dar: In Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ regiert das Präsens, das „konsequente Präsens“, aus dem radikale Bedingtheit und Fremdbestimmung sprechen, während Ernst Jüngers Kriegsprosa in ihren Ausuferungen „auf einen Metacode verweist“, der dem Schicksal des Einzelnen einen Sinn geben will. Das an Friedrich Schiller angelehnte Lied im Finale von Theodor Fontanes „Frau Jenny Treibel“ versucht, den hohlen Phrasen der Gesellschaft eine Weihe zu verleihen, während in Heinrich Manns „Schlaraffenland“, in dem in ganz ähnlicher Weise ein epigonales Gedicht vorgetragen wird, die Nutzlosigkeit des Vortrages lakonisch eingestanden wird. Eduard von Keyserling und Thomas Mann beweisen, dass „traditionell realistisch weitererzählt werden kann“, wobei Mann „einen Modus ironischer Distanzierung mit brillanten Effekten“ findet, aber Keyserling unbekümmert „die hohe Literatur“ benutzt.

Ebenso bedeutsam ist Baßlers Deutung des Beginns von Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Der Erzähler, intertextuell hochsensibel, spricht von einer „Urfabel“ und zugleich von einem wahren Vorfall, und dieses Zusammentreffen zwinge ihn, den poetischen Realisten, zur Niederschrift.

Doch betrachten wir Baßlers Studie als Ganzes: Das Werk hat vier Kapitel. Das erste behandelt, unter der Überschrift „Der ganz und gar unwahrscheinliche Realismus“, den Poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Im zweiten geht es um den Naturalismus, die Décadence und den Jugendstil, während im dritten „die emphatische Moderne“, gemeint ist der Expressionismus, in den Blick genommen wird. Im vierten und letzten Kapitel, das gleichzeitig das längste ist, untersucht Baßler die „neuen Realismen“ wie die Neue Sachlichkeit, den Magischen Realismus, die NS-Literatur und die Kahlschlag-Prosa nach 1945. In einzelnen Abschnitten und Unterabschnitten werden auch der Professorenroman, der Impressionismus, die Heimatkunst, die Frontliteratur sowie „Probleme des Politischen“ und Aspekte der Exilliteratur erörtert. Auch die „Unterhaltungsliteratur“ wird gelegentlich mit einbezogen, wobei dieser Begriff allerdings nicht klar definiert wird. Baßlers Vorgehen verläuft in den Bahnen der Kommunikationswissenschaft und der Semiologie. Die einführenden Seiten des Buches bilden, wie er sagt, einen „Crashkurs in elementarer Verfahrensanalyse“. Dort stellt er die Begriffe „syntagmatische“ und „paradigmatische Achse“ vor (der erste meint den manifesten Text, letzterer seinen kulturellen Hintergrund), ebenso die drei Ebenen Text, Darstellung und Bedeutung sowie weitere Konzepte.

Baßlers Ausgangspunkt – er hat ihn übrigens schon früher in anderen Publikationen dargelegt – ist die Beobachtung, dass alle Erzählliteratur, oder jedenfalls die ab 1850, irgendwie realistisch ist. Er bezieht sich auf Roland Barthes, für den der realistische Text wie auch der Mythos „ein sekundäres semiologisches System“ ist. Das hier zu denkende primäre System sei verdrängt und provoziere den uns natürlich erscheinenden Übergang von der Textebene zur Darstellungsebene. Aus diesen Sichtweisen heraus gelingt Baßler seine große Systematisierung.

Im Poetischen Realismus erkennt er das Hauptthema der Entsagung; dieses Entsagungsmotiv sei die Folge dessen, dass die damaligen Realisten auf Prinzipien und Werte bauten und ihnen „der große Sinngarant fehlte“. Der Naturalismus mute seinen Erzählern mehr zu, als sie mit eigener Kraft leisten können; sie arbeiten sozusagen mit „exotischen“ Reden und „wissenschaftlich benennbaren Kausalzusammenhängen“. Der Expressionismus gehe in dieser Hinsicht weiter: Die Sprache ist hier gegenüber der Realität das ganz Andere; die Sprache will sogar die Realität ersetzen, was – da sie ja auch die paradigmatische, die kulturelle Achse erfasst – zur „Wahnsinnspoesie“ führt. Die Neue Sachlichkeit sei auf Beobachtung aus, erstrebe das „Hernehmen des Gegebenen“, ohne poetisch sein zu wollen: „Es geht um Handlungscodes, darum, wie sich das Individuum in der Gesellschaft ethisch orientieren kann. Mit anderen Worten: Es geht um Politik.“ Die Kahlschlag-Literatur wünsche nur noch die Aussage als solche, sie misstraue allen „überwölbenden Bedeutungen“ – und könne doch nicht anders, als „immer wieder auf eine Bedeutungsebene zu verweisen, und sei es als Leerstelle“.

Die Fülle von Baßlers nuancenreichen Charakterisierungen lässt sich hier nur andeuten. Er schreibt sehr schwungvoll – „Pathos aus allen Rohren“, heißt es anlässlich Stefan Zweigs – und oft theoriebeladen: In Kellers „Grünem Heinrich“ erscheine „der anti-realistische Effekt eines nicht-metonymischen Ähnlichkeitsverhältnisses“. Außerdem mit Überzeugungskraft. Prägnante Zitate, auch aus Werken außerhalb der Hauptströmungen, stützen die Argumentationen Baßlers ab.

Um nochmals auf die Unterhaltungsliteratur zurückzukommen: Baßler nennt „das unfehlbare Rechtbehalten des Helden“ als ein Kennzeichen dieser Literatur, was jedoch zu eng gesehen ist. Ist Fontanes Werk „Die Poggenpuhls“ ein Unterhaltungsroman? Die männliche Hauptperson Onkel Eberhard hat ja immer Recht. Darüber hinaus macht sich diese Figur über das Entsagungs- oder Versagungsmotiv lustig: „Sprich nicht von ‚versagen‘. Das Wort kann ich nicht leiden“, sagt er zu seiner Schwägerin. Baßlers Ansatz „Erzählprosa ist realistisch“ ist fruchtbar, aber nicht der einzig denkbare. Ein anderer Ansatz, gedacht sei an die Aussage „Literatur ist Utopie“ der Bloch-Ueding’schen Schule, käme vielfach zu anderen Einschätzungen und Ergebnissen.

Mit einem originellen und bitteren Blick auf den heutigen Buch- und Medienmarkt schließt Baßler seine Studie: Der große Traum aller literarischen Avantgarden, auf dem Wege der Kunst „bewohnbare Strukturen zu schaffen“, werde womöglich von der Kulturindustrie samt ihren „vermeintlich trivialsten realistischen Erzählmustern“ verwirklicht.

Titelbild

Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850-1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
416 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155651

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