Hilferufe aus Janowitz

Sidonie Nádhernýs Briefe an den Denkmalpfleger Václav Wagner

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schloss Janowitz (Vrchotovy Janovice), südlich von  Prag gelegen, hat seinen festen Platz in der Literaturgeschichte. Auf diesem Schloss hat Sidonie Nádherný (1885–1950) über viele Jahre hinweg hochrangige Gäste aus Kultur und Politik empfangen, darunter Rainer Maria Rilke, mit dem sie bis zu seinem Tod in Verbindung bleiben sollte, und vor allem auch Karl Kraus. Mit letzterem war sie von 1913 bis zu dessen Tod 1936 (um hier Friedrich Pfäfflins elegante Formulierung aufzunehmen) „in einer leidenschaftlichen, von Spannungen und Entfremdungen begleiteten Beziehung verbunden“; Kraus hat der Baronesse weit über 1000 Briefe, Postkarten und Telegramme geschickt.

Seinen Wunsch, einmal in dem von ihm geliebten Janowitzer Park begraben zu werden, konnte „Sidi“ allerdings nicht mehr erfüllen. Denn bald kam, wie sie in ihren Tagebuchnotizen festhielt, „eine traurige, erregte Zeit. […] Hitler kam, das Protektorat wurde ausgerufen u. seither nichts als Leid, Verbrechen“. 1942 wurde das Schloss von deutschen Truppen beschlagnahmt, der „SS-Truppenübungsplatz Beneschau“ wurde eingerichtet, Sidonie Nádherný wurde enteignet und vertrieben. Sieben Jahre lang wehrt sich die deutschsprachige Tschechin, zuerst gegen deutsche, danach gegen russische und tschechische Übergriffe, um das Schloss und ihren Garten zu schützen – doch vergeblich. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten wird Sidonie Nádherný – diesmal endgültig – enteignet. Bereits 1948 sieht sie sich gezwungen, ihre Flucht vorzubereiten, 1949 gelingt es ihr schließlich, bei Eger die tschechisch-deutsche Grenze zu überschreiten, im Jahr darauf, 1950 stirbt sie, völlig verarmt, im englischen Exil.

Die Briefe, die sie zwischen 1942 und 1949 an den Prager Denkmalpfleger Václav Wagner (1893–1962) gerichtet hat, sind Hilferufe: Klagen, Gesuche, Bitten, sie zu unterstützen in ihrem aussichtslosen Kampf gegen die deutschen und tschechoslowakischen Behörden. Wagner, seit 1940 Direktor des Prager Staatlichen Denkmalamtes, seit 1942 allerdings von der deutschen Okkupationsmacht in die Reihe der Mitarbeiter zurückversetzt und aufgrund seiner Verbindungen zum tschechischen Widerstand selbst immer gefährdet, hilft ihr dann auch unermüdlich und unauffällig, wo er nur kann. Er ist genauso wie Sidonie Nádherný bestrebt, das Schloss, den Park, die Kulturlandschaft Mittelböhmen, die alten Werte zu erhalten – und steht genauso wie sie von Anfang an auf verlorenem Posten.

120 Briefe und Postkarten, Dokumente der immer größer werdenden Verzweiflung: Eine Zeitlang träumt Sidonie Nádherný noch immer, nach wie vor, es könnte ihr gelingen, trotz der von Reinhard Heydrich (in enger Verbindung mit dem „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler) organisierten „Umvolkung“, weiterhin die „Verschönerung unseres Janovice“ zu betreiben. Ihr ganzes Sinnen und Trachten, so scheint es, kreist um das Schloss und den Garten. Sie redet von Primeln und Schneeglöckchen, von ihrem Hund, dem offenbar auch Gefahr droht, von den Kunstschätzen in ihren Gebäuden und von den exorbitanten Kosten diverser Renovierungsarbeiten (die das Denkmalamt übernehmen soll), als wüsste sie nicht Bescheid darüber, wie es Zehntausenden Menschen geht, die „umgesiedelt“, verfolgt, ermordet werden.

Sie überlegt, welche „Abzugsposten“ sie geltend machen könnte angesichts des enormen Aufwandes, den die Pflege ihres Besitzes ihr abverlangt, während „ihr“ Oberförster im Sterben liegt: „er war einer der wenigen unbestechlichen Menschen, ehrlich gewissenhaft u. loyal u. ein hervorragender Waldkenner“, erzählt sie Václav Wagner; der Oberförster indessen ist noch lange nicht tot. Das Schicksal der nahe gelegenen Bezirkshauptstadt Sedlčany, die geräumt wird, erfüllt sie „mit Bangen“. Aber: „Ich persönlich“, so notiert sie im selben Schreiben, „lebe meinem Janovice, arbeite den ganzen Tag im Park, überall wo nötig das Unkraut entfernend, lasse jetzt ein Stück Parkmauer reparieren […], kurz, ich beisse die Zähne zusammen u. lasse mich von meinem Weg nicht ablenken: die Schönheit von Janovice muss gepflegt, erhalten u. vertieft werden bis zu meinem letzten Atemzug“. 1944 muss sie zur Kenntnis nehmen, dass die „Aussiedlungskanzlei des Ministeriums des Innern mit dem Sitze in Beneschau“ auch sie selbst vertreibt. „Ich lebe wie in einem bösen Traum“, hält sie fest, „momentan sieht das Schloss wie ein Zigeunerlager aus.“ Mit der Übergabe beziehungsweise Übernahme des Schlosses ist die Hauptaufgabe der genannten Aussiedlungskanzlei beendet, der neue „SS-Truppenübungsplatz Böhmen“ zur Gänze der Verwaltung durch die SS-Kommandantur Beneschau unterstellt.

Nach dem Einmarsch der Roten Armee wird Wagner wieder Leiter des in Prag ansässigen Staatlichen Amtes für Denkmalpflege, ehe er 1948 abermals abgesetzt und 1949 schließlich, als „Führer einer illegalen Gruppe“, verhaftet und zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Das Schloss aber ist unmittelbar nach dem Krieg, nach den durch die Waffen-SS und später durch die russische Armee verursachten Zerstörungen, nicht mehr bewohnbar. Sidonie Nádherný hält gleichwohl unbeirrt und unbeirrbar an ihrem Plan fest, das Schloss mithilfe Václav Wagners und mit Unterstützung des zuständigen Ministeriums für Schulwesen und Aufklärung wieder zu einem „Juwel“ umzugestalten. Wagner erhält also weitere, darunter zunehmend abstrusere Hilferufe; etwa die Bitte, einen jungen Leonberger, den sie bei einem Hundezüchter in Heidelberg bestellt hat, über das Hauptquartier der Amerikaner in Frankfurt am Main in die Tschechoslowakei einzuführen: „Bitte, bitte finden Sie einen Weg. Ich bin sehr einsam ohne Bobby.“ Wagner findet keinen Weg mehr, nicht einmal mehr für sich selbst. Sidonie Nádherný hingegen findet im letzten Augenblick noch einen Weg ins Exil.

Die Veröffentlichung ihrer Briefe war gewiss zuerst einmal ein heikles Unternehmen, zeigt sich doch die Baronesse in all diesen Schriftstücken nicht im besten Licht. Friedrich Pfäfflin aber hat in bewährter Manier, sachkundig und umsichtig wie kaum einer, die Briefe kommentiert; und er hat sie darüber hinaus konfrontiert und verschränkt mit Verordnungen, Verfügungen, Verlautbarungen, kurz: mit unzähligen historischen Dokumenten der wechselnden politischen und militärischen Institutionen, vor deren Mauern Sidonie Nádherný zerbrochen ist. So ist am Ende, auch dank der Mitarbeit von Alena Wagnerová, ein Buch entstanden, das nicht nur in der von Pfäfflin besorgten „Bibliothek Janowitz“, sondern darüber hinaus obendrein in der deutschsprachigen Literaturgeschichte einen festen Platz verdient – nicht anders als das inzwischen längst vor dem Verfall gerettete Schloss Janowitz.

Titelbild

Sidonie Nádherny von Borutin: Gartenschönheit oder die Zerstörung von Mitteleuropa. Briefe an Václav Wagner. 1942-1949.
Mit Dokumenten herausgegeben von Friedrich Pfäfflin und Alena Wagnerová.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
344 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316188

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