Im Entwicklerbad der Erinnerung

Pünktlich zu seinem 70. Geburtstag beweist Patrick Modiano im Roman „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ abermals seine erzählerische Geschmeidigkeit

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leo Malet verfasste in den 1950er-Jahren eine Krimireihe um den Detektiv Nestor Burma, von denen jeder Band in einem anderen Arrondissement spielte. Eine vergleichbare Karte von Paris ließe sich nach rund 30 Romanen auch mit dem Werk von Patrick Modiano zeichnen. Seine Bücher verlassen kaum je die Stadtgrenze, ihre Topographie sind die Quartiere und Straßen von Paris, die im Blick des Autors eine schwebende Intimität erhalten. Modiano versteht sich vortrefflich darauf, urbane Stimmungen zu zeichnen, die leuchtend klar und zugleich stets leicht verschattet wirken. Sein Paris gibt das Geheimnis nie ganz preis.

Sein neuer Roman „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ erzählt von einem Schriftsteller namens Jean Daragane, der sich aus dem alltäglichen Treiben verabschiedet hat und die Einsamkeit mit „exaltierter Erregung morgens und abends, als sei noch alles möglich“, genießt. Unvermittelt wird er durch ein selten gewordenes Telefonklingeln aufgeschreckt. Eine „weiche und bedrohliche Stimme“ meldet sich und teilt ihm mit, dass das verlorene Adressbuch gefunden sei und ihm gerne persönlich zurückgegeben würde. Zu dem anberaumten Treffen im 8. Arrondissement erscheint ein junges Pärchen: Gilles Ottolini – die Stimme – und seine Freundin Chantal Grippay. Sie fragen nach einem gewissen Guy Torstel, der in dem Adressbuch vermerkt sei, aus Gründen eines Kriminalfalles, den Gilles recherchiere. Die Stimmung wirkt unbehaglich, selbst das Quartier, in dem Jean früher oft war, ist „ach nein“ nicht mehr dasselbe.

So nimmt eine Geschichte ihren Lauf, in die Jean nie hineingezogen werden wollte. Mysteriöse Andeutungen, falsche Angaben und versteckte Drohungen sowie Jeans eigenes literarisches Debüt, das er nicht mehr lesen will, spielen dabei eine Rolle. Das Verhalten von Chantal und Gilles wirkt seltsam und unergründlich. Erst recht, als Jean Daragane etwas später von Chantal angerufen wird, ohne Kenntnis von Gilles, weil sie ihm dessen labile Persönlichkeit erklären möchte und so erst recht Unsicherheit sät. Dabei geht es auch um Pferdewetten, Spielsucht und eine rätselhafte „Akte“. Weitere Namen tauchen auf, die ins 9. und 17. Arrondissement führen. Für Jean klingen sie fremd, doch irgendetwas lässt ihn aufhorchen. Es ist wie ein „Insektenstich, zunächst ganz leicht, dann verursacht er dir einen immer heftigeren Schmerz und bald schon ein Gefühl wie bei einer Risswunde“. Zwei der Namen – der einer Frau und der eines Ortes – enthüllen schließlich einen geheimen Schlüssel, der Jean Zutritt zu verschütteten Erinnerungen gewährt: Annie Astrand und Saint-Leu-la-Fôret – ein Städtchen etwas außerhalb von Paris.

An diesem Punkt der Geschichte eröffnen sich dem Autor Patrick Modiano zwei Wege. Subtil, diskret weckt seine Geschichte eine untergründige Spannung und Erwartung. Er kann die kriminelle Verwicklung mit Gilles und Chantal weiter treiben, die beiden zu Drohungen und Erpressung verleiten und zur Preisgabe ihres rätselhaften Plots. Oder er lässt diesen Strang gänzlich fallen und konzentriert sich auf die Schatten der Vergangenheit, die bis weit in seine Kindheit zurück reichen. Modiano entscheidet sich für letzteres.

Im Säurebad von Jeans Erinnerungen werden immer deutlicher Bilder und Szenen sichtbar, die zu einer sich verdichtenden Ahnung gerinnen. Mehr aber nicht. Jean unterlässt jegliches Mutmaßen und Interpretieren aus erwachsenem Blickwinkel, er konzentriert sich ganz auf die Wahrnehmungen und Empfindungen des Jungen, der er damals war. Gewissheit ist so keine zu erlangen, die Vergangenheit gibt ihre Wahrheiten nicht preis. Schicht um Schicht entwickeln sich Erinnerungsbilder, die ein Haus in Saint-Leu-la-Fôret zeigen und um Annie Astrand kreisen. Seine Eltern waren nicht da. Hatten sie ihn verlassen, oder nur auf Zeit in Obhut gegeben – oder wurde er gar entführt? Im dämmrigen Gedächtnis kehrt Jean nach Paris zurück, in die Rue Notre Dame de Lorette im 9. Arrondissement, die er als Junge einst hinauf und hinunter gegangen war, immer auf derselben Straßenseite. Hier liegt das Epizentrum seiner Erinnerung. In der Tasche trug er einen Zettel, auf dem seine Wohnadresse stand, und die Bemerkung „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“.

Stärker als andere Romane lässt dieses Buch autobiographisch tief blicken. Es ist eine Geschichte des Verlassenwerdens, die ihre harten Fakten aber in der Schwebe hält. Modiano erweist sich einmal mehr als Meister der zwingenden Koinzidenzen, der behutsamen Stimmungen und des subtilen Dämmerlichts, die er mit stilistischer Geschmeidigkeit und Contenance vorträgt. Modiano ist ein Flaneur der Erinnerung, worin Paris aufbewahrt ist – als Teil von ihm selbst. „Ich kann die Wirklichkeit des Geschehenen nicht darstellen, ich kann nur seinen Schatten zeigen“, stellt er dem Buch ein Zitat von Stendhal voran. Exakt das tut er. Im Schatten der Erinnerungen ist in Umrissen eine Wirklichkeit erkennbar, die ihre letzten Geheimnisse für sich behält.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 14.9.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
160 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446249080

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