Aufstieg und Fall einer ‚liberalerenʻ DDR-Kultur

Zu Gunnar Deckers etwas überbordenden Studie zu 1965 als Schicksalsjahr für die Entwicklung von Literatur und Kunst in der Deutschen Demokratischen Republik

Von Stefan ElitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Elit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Mauerbau erlebte die DDR für eine kurze Zeit eine allgemeine Liberalisierungsphase, der auf kultureller Ebene die Veröffentlichung zahlreicher Werke zu verdanken ist. Diese Werke (Romane, Filme, Gemälde, Skulpturen und anderes mehr) stehen bis heute für die (selbst-)kritischere sozialistisch orientierte Literatur und Kunst, man denke nur an Christa Wolfs Geteilten Himmel und dessen gleichnamige Verfilmung durch Konrad Wolf, Erwin Strittmatters Ole Bienkopp, Hermann Kants Aula oder auch Gedichte Günter Kunerts sowie Gemälde von Willi Sitte und Werke der bildenden Kunst von Fritz Cremer. Weitere Werke, insbesondere im Bereich Prosa, Theater und Film, standen 1965 mehr oder weniger vor dem Abschluss, sollten oftmals jedoch bis nach dem Ende der DDR das Licht der Öffentlichkeit nicht erblicken.

Beispielsweise blieb eine Jahresproduktion der DEFA praktisch ganz unter Verschluss, darunter die 1990 endlich gezeigten und dann rasch namhaft gewordenen Spielfilme wie Denk bloß nicht, ich heule (Regie: Frank Vogel, Drehbuch: Manfred Freitag und Joachim Nestler), Karla (Regie: Herrmann Zschoche, Drehbuch: Ulrich Plenzdorf und Herrmann Zschoche) oder Jahrgang 45 (Regie: Jürgen Böttcher, Drehbuch: Klaus Poche und Jürgen Böttcher). Der Stopp dieser Filme, die Behinderung von Theaterproduktionen nach Dramen von Peters Hacks, Heiner Müller und anderen oder auch das Aus für Romane wie den erst 2007 nachpublizierten Rummelplatz von Werner Bräunig waren die Folge einer neuen harten Linie der DDR-Kulturpolitik im Herbst 1965, die sich am Wechsel an der Spitze der UdSSR – vom Reformer Nikita Chruschtschow zum Neostalinisten Leonid Breschnjew – orientierte. Vor allem auf Betreiben Erich Honeckers wurde der Spätphase der Regierungszeit Walter Ulbrichts so das Signum einer neuen Eiszeit verliehen, die Honecker selbst nach seinem Machtantritt 1971 bekanntlich mit einer neuen Liberalisierungsgeste zumindest öffentlichkeitswirksam zu beenden versprach.

Wie es sich hingegen mit dem kleinen Tauwetter zu Beginn der 1960er-Jahre und mit dessen Ende genauer verhielt, ist immer noch eher Expertenwissen. Dieses stützte sich bislang vornehmlich auf den 1991 pioniermäßig herausgebenen Dokumentationsband zu demjenigen SED-Zentralkommitee-Plenum, auf dem vor allem Honecker eine neue ideologische Verhärtung gegenüber der Literatur und Kunst einläutete, indem er zahlreiche liberalere Entwicklungen diffamierte und fortan verunmöglichte: Die Rede ist von Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, das von Günter Agde herausgegeben wurde. Gunnar Deckers umfangreiche Studie verspricht nun, mit einem Fokus auf 1965, den „kurzen Sommer der DDR“ auf ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene und seine Beendigung durch das ‚Kahlschlagplenum‘ im Detail nachzuzeichnen und die paradigmatische Bedeutung dieser Zeit für die DDR bis zu ihrem Untergang herauszustellen. Dieses Versprechen wird von Decker einerseits beeindruckend übererfüllt, andererseits aber auch nicht ganz befriedigend eingelöst, was an der Gesamtstruktur, aber auch an den Einzeldarstellungen liegt.

Die Studie gliedert sich auf den ersten Blick souverän in einen anregungsreichen „Prolog“ anlässlich Fritz Cremers Plastik Der Aufsteigende von 1966/67 und drei angelegte Großkapitel, deren Titel eine systematische und chronologische Analyse des „kurzen Sommers“, seines Endes im ‚Kahlschlagplenum‘ und der nachfolgenden Situation signalisieren: „Der Aufstieg“, „Der Absturz“ und „Die Trümmer“. Dem folgt ein „Epilog“, der die Wendezeit von 1989 anhand von Heiner Müllers Hamlet/Hamletmaschine am Deutschen Theater Berlin fokussiert und nicht zuletzt anhand von Müllers Hauptdarsteller Ulrich Mühe ein „Sinnbild des Intellektuellen in der DDR“ (so der Epilog-Untertitel) geben möchte. Schon der Aufbau der an sich gut zu lesenden Großkapitel lässt jedoch auf mehreren Ebenen zu wünschen übrig: So bietet das Kapitel „Der Aufstieg“ zunächst für das Jahr 1965 einen kundigen Überblick über die herrschende Politikideologie, die seinerzeit neuralgische Ökonomik sowie die Kultur- und Jugendpolitik als Bedingungsgefüge für Literatur und Kunst. Das Kapitel geht dann jedoch nicht unproblematisch in eine lange Reihe von Einzelanalysen ohne feste Abfolgelogik über.

Die einzelnen Analysen verdeutlichen die Situation beziehungsweise Position von Autoren, bildenden Künstlern, Theaterschaffenden, Filmemachern, Philosophen, Musikern und anderen Vertretern des Kulturbetriebs in ihrer Zeit und fügen sich wie Mosaiksteine zu einem Gesamtbild der Zeit, Decker verfährt jedoch chronologisch und ‚spartenmäßig‘ recht frei, sprich: Er springt teils allzu sehr hin und her und verliert dadurch auch an systematischer Stringenz. Denn was an der einen Stelle bereits grundsätzlich erläutert worden ist, begegnet einem an einer anderen nochmals und wird dort als gänzlich neues Phänomen behandelt. Hier wie in den beiden Folgekapiteln scheint eine gewisse Straffung beziehungsweise eine konsequentere Strukturierung unterblieben zu sein, die das Lektorat eines Publikumsverlags wie Hanser sicher hätte leisten können, um einem so kenntnisreichen und analysestarken Werk mehr Nachdruck zu verleihen. Etwa im zweiten Großkapitel „Der Absturz“ begegnet man daher dem an sich bereits im Vorkapitel behandelten ‚Kahlschlagplenum‘ mit einigen Wiederholungsschleifen noch einmal, und die an sich sehr überzeugende These der literarischen Analyse, dass es infolge dieses Plenums eine große eskapistische, aber auch widerständige Tendenz zu einer neuen Romantik gegeben habe (unter anderem bei Christa Wolf), mäandert zu sehr durch das Kapitel.

Zu den generell beeindruckenden, da von intimer Kenntnis geprägten Reihen von personenbezogenen Einzelanalysen ist ferner kritisch zu bemerken: Hier finden sich  zahlreiche weiterführende historische Informationen und Details, die für DDR-Interessierte zwar grundsätzlich wissenswert sind, deren Beitrag zum eigentlichen Thema jedoch nicht immer klar erkennbar ist. Decker neigt außerdem zu stark wertenden Einschätzungen, die im Positiven wie Negativen eine etwas aufgeladene Verbindung mit dem Gegenstand respektive der betroffenen Person vermuten lassen, so bei den prolongierten Würdigungen Franz Fühmanns und Stephan Hermlins oder auf der anderen Seite der zunehmend spöttischen Behandlung eines Peter Hacks. Der bereits durch monographische Porträts zu Fühmann, Hermann Hesse und andere Literaten hervorgetretene Autor hätte hier den Skopus der vorliegenden Studie besser beachten und die Personendarstellungen stärker der systematischen Gesamterkenntnis unterordnen können.

Mehr Raum hätte sich auf diese Weise auch für die Vorstellung der literarischen oder filmischen Werke ergeben, die der Autor des Öfteren wenig strukturiert angeht, denn die sicherlich nicht mehr allgemein bekannten Inhalte, wie etwa von Strittmatters Ole Bienkopp oder Fritz Rudolf Fries’ Der Weg nach Oobliadooh, hätten vor einer weitergehenden Auswertung durchaus grundständig (kurz) umrissen werden können. Der allzu rasche bis sprunghafte Gang durch die Werke hat Decker selbst in einigen Fällen nicht vor kleineren Lapsus bewahrt: Strittmatters Bienkopp zum Beispiel wird  mitnichten von einem Baum erschlagen, wie Decker schreibt, sondern fieberträumt lediglich von einem solchen, während er sich in Eiseskälte buchstäblich zu Tode gräbt. Außerdem erscheint die umfassende Verrechnung der Beziehungsproblematik in Wolfs Geteiltem Himmel auf den Mauerbau zumindest schwierig angesichts der Tatsache, dass der Mauerbau selbst in dem Werk praktisch nicht thematisiert wird.

Gunnar Decker hat mit „1965“ zwar ein in Materialkenntnis und Wertungsimpetus starkes Werk zu einer ohne Zweifel fortan als noch zentraler anzusehenden Phase der DDR-Kulturentwicklung vorgelegt, die etwas ‚undisziplinierte‘ Disposition und bisweilen beinahe plauderige Detaildarstellungen mindern dessen Durchschlagskraft jedoch in einem nicht unerheblichen Maße. Wenn man Letzteres freilich um des spannenden Themas willen hinnehmen mag, wird man durch eine Fülle von interessanten (objektiven) Einsichten und diskutablen (subjektiven) Positionen belohnt. Decker erweist sich hierbei in positiver Hinsicht – aber auch mit entsprechenden Grenzen – in der Distanz letztlich selbst noch als einer der verehrten DDR-Intellektuellen, denen er mit der vorliegenden Studie eine Würdigung zukommen lässt, die deutlich über deren jeweilige Beiträge zur Zeit um 1965 hinausgeht – und die alten ‚Feinde‘ bekommen in diesem Zuge entsprechend auch noch einmal eins drüber.

Titelbild

Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
494 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446247352

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