Gefangen im Tim und Struppi-Land

Ein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einer Mischung von Abenteuerlust, Faszination und Xenophobie entstandenes, stark subjektiv gefärbtes Bild ‚exotischer‘ Weltregionen hat bis heute seine Gültigkeit bewahrt. Eine Spurensuche

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 1930er und 1940er Jahren forderte das Reisen selbstredend ein weitaus höheres Maß an Abenteuerlust und Entdeckergeist als heutzutage. Zwar war die Welt auch damals schon weitestgehend kartographiert und somit auch für den so genannten Westen fast vollständig erschlossen, doch Berichte aus fernen Ländern und deren fremden Kulturen übten auf viele Leser einen großen Reiz aus, der heute, auch wenn er etwas archaisch wirkt, durchaus nachvollziehbar ist.

Vor allem aber haben Reiseberichte wie Robert Byrons „Der Weg nach Oxiana“ (der vielen später reisenden Autoren, so vor allem Bruce Chatwin, als Wegweiser und überhaupt als die wichtigste Reiseliteratur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt) oder Christopher Isherwoods „Kondor und Kühe: Ein südamerikanisches Reisetagebuch“ ein bestimmtes Bild fremder Welten – in den genannten Fällen dem Nahen Osten respektive Südamerika – geprägt, das in heutigen, vor allem politisch vollkommen anderen Zeiten zwar von einem Hauch von Nostalgie umweht ist, aber dennoch auf eine gewisse sentimentale Art seinen Reiz bewahrt hat. Der Nahe Osten Byrons ist noch frei von terroristischen Gruppierungen, akute Lebensgefahr geht allenthalben vom Wetter, wilden Wölfen oder einzelnen Straßenräubern aus und die Einheimischen beugen sich den Reisenden aus der Kolonialmacht, zu der sie letztlich doch aufschauen und die sie sich – siehe Byrons stetes Ausspielen der nach Westen orientierten Bestrebungen Persiens und Afghanistans – als Vorbild auserkoren haben.

So wirkt die in beiden Fällen nicht nur leicht hochnäsige und doch sachkundige wie informierte Herangehensweise an die Beschreibung des bereisten Gebiets bis heute gerade deshalb so stark nach, weil sie den Berichten das gewisse Etwas gibt – eine Mischung aus kolonialer Arroganz und andächtiger Faszination angesichts fremder, für den Beschreibenden im Wesentlichen kryptischen Kulturen. Es ist eine heute – in Hinblick auf die Gegenwart – verloren gegangene Welt, die in diesen Berichten konstruiert wird; zwar bergen diese Weltregionen auch heute noch für viele westlich sozialisierte Menschen ein undurchdringlich anmutendes Geheimnis, doch es ist nicht mehr das gleiche Geheimnis wie noch in den 40er Jahren, es ist kein Geheimnis, das aus einer kolonialistischen Sicht umschreiben wird, sondern bestenfalls aus einer imperialistischen, schlimmstenfalls kapitalistischen. Der Nahe Osten Don DeLillos, wenngleich nicht ohne Faszination, ist ein anderer als der Robert Byrons.

Doch das in den 30er und 40er Jahren entstandene Bild einer exotischen, unbekannten Welt jenseits der europäischen Grenzen und Kultur wurde für spätere Generationen vor allem vom belgischen Zeichner Hergé und seiner Reihe „Tin Tin“ – zu deutsch „Tim & Struppi“ – geformt. Erzählt werden hier die Geschichten des jungenhaften Reporters Tim, der mit seinem Hund Struppi und seinen gelegentlichen Begleitern Kapitän Haddock und Professor Bienlein – die jeweils dem Klischeebild eines Seefahrers und eines zerstreuten Genies entsprechen – die Welt bereist und dabei unzählige Abenteuer erlebt. Es ist eine Welt voller umtriebiger Spione, zwielichtiger Verbrecher sowie überzeichneter Einheimischer (die dem Zeichner immer wieder auch den Vorwurf eines rassistischen Weltbildes einbrachten), in der sich der Reporter Tim bewegt, wenn er den Nahen Osten, Süd- und Nordamerika oder Russland besucht. Die Comic-Bände versuchen dem Leser eine ferne Welt nahe zu bringen, weniger aufgrund des Spiels mit nationalen Klischees, wie es in den 60er und 70er Jahren die „Astérix“-Reihe tat, sondern mit einer gewissen ethnologischen Ernsthaftigkeit. Natürlich sind in den Heften zahlreiche Gags enthalten, doch dienen diese eher dem Comic-Relief, stehen nicht im Mittelpunkt und sind meist nur der repetitiven Tollpatschigkeit wiederkehrender Figuren geschuldet. Tatsächlich ähneln die Geschichten eher Spionageromanen und für dieses Genre ist die Konstruktion eines exotischen, zwischen Phantasie und einer niemals ganz greifbaren Realität pendelnden Weltbildes ja von elementarer Bedeutung.

Das sowohl in Hergés Comicbänden als auch in den Texten Byrons, Isherwoods, später Chatwins oder Paul Bowles‘ vermittelte Bild einer exotischen, fremden, gleichwohl (aus heutiger Sicht) vergangenen Welt wird schon früh, 1962, in Thomas Pynchons Roman „V“ aufgegriffen und parodiert. So findet der nach Erkenntnis strebende Forscher Herbert Stencil in den Aufzeichnungen seines Vaters mögliche Hinweise auf ein weltweites Komplott im Zeichen eines mysteriösen ‚V’; gerade im dritten Kapitel wird die mutmaßliche Spionagegeschichte aufgrund der Rekonstruktion einer aus Reiseliteratur erst entstandenen Welt auf die Spitze getrieben. Die Figuren sprechen konspiratorisch von einer „Baedecker-Welt“, die der realen wie eine Folie aufgelegt wird, so dass eine zweite, subjektiv gefärbte topographische Realität entsteht. Es ist durchaus erstaunlich, dass sich dieser Ausdruck in der Alltagssprache nicht durchgesetzt hat, beschreibt er doch recht genau die Diskrepanz zwischen der in Reiseliteratur (nichts anderes waren die frühen Baedecker-Bände, vor allem im Vergleich mit heutigen, eher als funktional zu bezeichnenden Reiseführern) beschriebenen und einer real erlebbaren Welt.

So ist es die Macht der Sprache, oder des Bildes, der jene Baedecker-Welt real erscheinen lässt und auch den aus der Subjektivität gewonnenen Reiz der Reiseliteratur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmacht. Spannend wird es jedoch vor allem, wenn diese Folie über einen literarischen Text gelegt wird, als postmodernes Vexierspiel um eine angenommene, jedoch nicht verifizierbare ‚Realität’ im als exotisch Beschriebenen. Und wenn diese Welt nicht nur die Spuren Byrons, Isherwoods oder Chatwins, sondern vor allem die Hergés trägt, erscheint eine Entschlüsselung umso spannender. Und kein Autor bedient sich, oft unentlarvt, dieser Folien so unverschämt wie Christian Kracht.

Die Bedeutung von „Tim & Struppi“ für den mittlerweile von den Feuilletons oft über Gebühr gefeierten Autor wird von ebendiesen meist verschwiegen, ignoriert oder im schlimmsten Falle erst gar nicht erkannt. Dass es sich bei seinem zurecht (aber oft aus den falschen Gründen) umjubelten Roman „1979“ um ein hochartifizielles Werk, eine Pastiche aus popkulturellen Referenzen, eingebettet in ein nicht gerade gut verschleiertes Tim & Struppi-Universum handelt, wird viel zu oft übersehen. Dabei hätte ein Blick auf den Autor und seinen in den 90er und 00er Jahren kultivierten Look bereits reichen müssen, denn allzu sehr ähnelt der jungenhaft wirkende Schriftsteller bereits optisch seinem Comic-Vorbild. Wie dieses reist er, so die offizielle Biographie, als rastloser Reporter um die Welt. Seine Abenteuer sind nachzulesen in zahlreichen Bänden mit Reiseberichten und Kurzgeschichten (am Empfehlenswertesten im Übrigen der in „New Wave“ enthaltene Text über eine Reise in die Mongolei); auf, nennen wir es mal wohlwollend ‚überdeterminierten’, Fotos zeigt sich der Autor auf der Buchrückseite schon mal mit einer Kalashnikov im Arm.

In „1979“ taucht eine mephistophelische Figur namens Mavrocordato auf, welche den Ich-Erzähler nach dem Konsum schwarzer Speisen (hier wird gleichzeitig auf Huysmans „Gegen den Strich“ angespielt) zu einer regressiven Pilgerfahrt überredet. Diese Figur erinnert optisch und in ihrem Gebaren nicht von ungefähr an den typischen Tim-&-Struppi-Schurken, eine leicht irre, gleichfalls verführerische, hagere Gestalt mit struppigem Bartwuchs, je nach Bedarf orientalischer, lateinamerikanischer oder osteuropäischer Herkunft. Als weitere, mitunter auch ironisch gemeinte Hommage darf durchaus die Unmöglichkeit seitens des Ich-Erzählers verstanden werden, den Schurken einer dieser Herkunftsmöglichkeiten zuzuordnen. Doch bereits zuvor wandelt der Erzähler durch ein Persien, das sich wie eine gut erinnerte Reproduktion aus Bänden wie „Im Reiche des schwarzen Goldes“ oder „Kohle an Bord“ entfaltet – allerdings, und hier wird es interessant, mit mehreren allzu offensichtlichen (und von der Kritik meist überlesenen) Querverweisen auf Byrons „Reise nach Oxiana“. Oder ist es ein Zufall, dass der Reisepartner von Krachts Helden auf den Namen Christopher hört, ebenso wie Byrons Begleiter Christopher Sykes? Und das auch dieser, ähnlich wie Sykes, plötzlich erkrankt und die Reise nicht mehr mitmachen kann?

Die Figur bewegt sich traumwandlerisch durch diese rein literarische Landschaft, die sich aus Bildern von Comics, alten Reiseberichten, aber auch aus Fragmenten von Popsong-Texten zusammensetzt. Am Ende steht die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Erzählers, bzw. sie steht eigentlich nicht mehr da, weil die Eindeutigkeit, in der sich dieser durch die Tim-&-Struppi-Welt bewegt, augenscheinlich ist. Und doch ist es bewundernswert, wie sich die von Pynchon beschworene Baedecker-Welt der Reiseliteratur aus den 30er und 40er Jahren und das Comicuniversum Hergés überlagern und zu einer einzigen, die Realität simulierende Fiktion entwickeln.

Ähnlich geht Kracht übrigens auch in seinem umstrittenen Roman „Imperium“ vor. Ohne die (auch in dieser Zeitschrift aufgegriffene) Diskussion um die möglichen faschistoiden Tendenzen des Werkes wieder eröffnen zu wollen, schwächt die Art, wie Kracht Geschichte fiktionalisiert (und anhand dieser Fiktionalisierung auch teilweise verharmlost) die manipulative Wirkung ab. So ist die an eine Mischung aus Corto Malteses legendärem Comic „Südseeballade“ und Hergés Coverbilder erinnernde Zeichnung auf dem Titelbild kein Zufall; ebenso wenig übrigens, dass Figuren aus der „Südseeballade“ plötzlich als handelnde Personen in „Imperium“ auftauchen; unkommentiert, versteht sich. Das Wissen um diese intertextuellen Spielereien verleihen den Texten einerseits etwas Verharmlosendes, weil Comichaftes, andererseits rekurrieren sie auf ein rein fiktives Weltbild, auf besagte Folie, die sich über den als real wahrgenommenen Orten – Persien im Jahre 1979, Afrika in den 30er Jahren – legen lässt und immer wieder auf sich selbst aufmerksam macht: Der Autor beschreibt nicht die Welt, wie sie historischen, ethnologischen und geographischen Erkenntnissen folgend gewesen ist, sondern wie sie in der Vergangenheit subjektiv konstruiert und rezipiert wurde.

Und genau dies meint auch Pynchon mit seiner ‚Baedecker Welt’: Das Erfahren von Welt beschränkt sich auf einen vorgezeichneten, subjektiv gefärbten (vielleicht auch ideologisch forcierten) Ausschnitt, der sich erstens gegen jede Realität bzw. Ganzheit verschließt, zweitens aber eine zweite Realität erschafft, die den Diskurs in der Folge beherrschen wird und das reale Erleben im Großen und Ganzen nur im Rahmen dieser vorgezeichneten Wege nachvollziehbar macht. So ist auch Chatwins Äußerung, er habe bei seinen Reisen in den Nahen Osten zunächst stets versucht, Byrons Route exakt zu rekonstruieren, mit Vorsicht zu genießen (auch wenn er lediglich die zweifellose Genialität des Berichts preisen will); immerhin war er, anders als mutmaßlich Kracht, nicht mit dem „Tim & Struppi“-Band „Im Reiche des schwarzen Goldes“ unterwegs.

Doch übt das romantisierende Bild einer kartierten, jedoch für westliche Augen fremden, in ihrem wahren Wesen unentdeckten Welt auch heute noch eine immense Anziehungskraft aus. So widmet sich Alastair Bonnett, britischer Professor für ‚Social Geography‘, in seinem jüngst erschienenen, äußerst unterhaltsamen Buch „Die seltsamsten Orte der Welt“ – wie der Untertitel besagt – „geheimen Städten, verlorenen Räumen, wilden Plätzen und vergessenen Inseln“, auch diese hauptsächlich im asiatischen Raum gelegen. Bonnetts Orte sind dabei keineswegs fiktiv, auch wenn sein Buch wie eine von Jorge Luis Borges ersonnene Fiktion anmutet. Und auch hier ist das Buchcover der Ästhetik des Comics nachempfunden; sicherlich kein Zufall. Noch einen Schritt weiter geht das Autorenkollektiv Passepartout um den Romanisten Jörg Dünne, die Komparatistin Kirsten Kramer sowie den Kunsthistoriker Stefan Bogen, die in ihrem Projekt „Weltnetzwerke – Weltspiele“ eine Exegese von Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ samt beiliegendem, eigens ersonnenen Brettspiel vorlegen, in dieser Art als wissenschaftliche Publikation sicherlich einzigartig.

Am anderen Ende des Spektrums steht ein Band wie die sehr empfehlenswerte Reportage „Zwischen den Grenzen. Zu Fuß durch Israel und Palästina“ von Martin Schäuble. Dessen Fußmarsch durch das Heilige Land verwirft den Exotismus der Tim & Struppi-Welt, also die Konstruktion einer subjektiv gefärbten Folie, die das ‚Fremde‘ dem westliche Leser als romantischen Ort des Unbekannten näherbringen soll, sondern zeichnet sich durch objektiven Realismus aus. Schäuble durchquert Israel und Palästina auf der Suche nach Menschen, die ihm ihre Geschichte erzählen; so ist es nicht seine Geschichte, die sich vor den Augen des Lesers entfaltet und jene subjektiv geprägte Landschaft konstruiert, die man in oben erwähnter Reiseliteratur (und ebenso in ihrer Fiktionalisierung etwa durch Christian Kracht) erfahren kann. Beides hat seinen Reiz, aber um ehrlich zu sein, ist jener, der von der Tim & Struppi-Welt ausgeht, ein bisschen größer.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Christopher Isherwood: Kondor und Kühe. Ein südamerikanisches Reisetagebuch.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Müller.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2013.
360 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783954380077

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Kein Bild

Jörg Dünne / Kirsten Kramer / Steffen Bogen: Weltnetzwerke - Weltspiele. Jules Verne In 80 Tagen um die Welt.
Konstanz University Press, Paderborn 2013.
350 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530335

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Martin Schäuble: Zwischen den Grenzen. Zu Fuß durch Israel und Palästina.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
220 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241428

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Robert Byron: Der Weg nach Oxiana.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Fienbork.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2015.
384 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783847720041

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Titelbild

Alastair Bonnett: Die seltsamsten Orte der Welt. Geheime Städte, verlorene Räume, wilde Plätze, vergessene Inseln.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
296 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406674921

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