Er ist wieder weg

Das Dritte Reich auf Droge: Norman Ohlers Blick auf ein unbekanntes Kapitel des Nationalsozialismus

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist Norman Ohlers Verdienst, die Kehrseite der deutschen Kriegsführung schonungslos aufgedeckt zu haben. Dieses Buch ändert das Gesamtbild.“ Kein Geringerer als der Zeithistoriker Hans Mommsen äußert dieses Lob in seinem kurzen Nachwort zu Norman Ohlers Studie mit dem provokanten Titel „Der totale Rausch“ zu künstlichen Drogen im Nationalsozialismus. Völlig unbekannt war die Verbindung zwischen der extremen Rechten der 1930er- und 40er-Jahre und den synthetisch erzeugten Räuschen ja nicht. Bisher war man aber geneigt, User wie Hermann Göring, Gottfried Benn oder Ernst Jünger für Ausnahmefälle in einem notorisch cleanen Regime zu halten. Oder für Ausgeburten einer literarischen Phantasie wie in Thomas Pynchons ausladendem Roman Gravity’s Rainbow (1973), in dem der Zweite Weltkrieg und Vietnam so übereinander geblendet werden, dass Alliierte wie Nazis sich im Dschungel synthetischer Drogen verlieren und das Stettiner Haff mit dem Mekong-Delta verschmilzt.

Insofern ist es eigentlich keine schlechte Idee, dass sich mit Norman Ohler jemand des Themas annimmt, der selbst immer als Journalist und Romancier tätig war. Allzu viele Titel weist seine Publikationsliste gar nicht auf, aber diejenigen, die sich darauf befinden, haben es in sich: 1996 veröffentlichte der damals 26-jährige Autor sein Debüt Die Quotenmaschine, angeblich nicht nur der erste auf Deutsch im World Wide Web publizierte Roman, sondern auch ein Text, der seine eigene Manipulierbarkeit durch eine Vielzahl von Benutzern gleich mitthematisiert. Nach der Veröffentlichung in Buchform folgten die Romane Mitte (2000) und Stadt des Goldes (2002), ein Posten als Stadtschreiber von Ramallah, die Mitarbeit am Drehbuch zu Wim Wendersʼ Film Palermo Shooting (2007) und, kurz vor dessen Tod, an einem weiteren Projekt mit Dennis Hopper. Gerade in Die Quotenmaschine und Mitte spielen Drogen als literarisches Motiv eine prominente Rolle, so dass der Weg zu Der totale Rausch gar nicht besonders weit scheint.

Nur handelt es sich dabei um eine akribische historische Arbeit, die sich auf die Jahre von 1938 bis 1945 konzentriert; sie basiert auf umfangreichen Quellenstudien in historischen und literarischen Archiven in Deutschland und den USA und muss Jahre in Anspruch genommen haben. Ein Großteil der Dokumente, die Ohler zum Teil auch abdruckt, ist bislang unveröffentlicht; dazu kamen Gespräche mit Historikern und Zeitzeugen. Den größten Raum nimmt dabei zwar das Kapitel über die unheilvolle Verbindung zwischen Hitler und seinem Leibarzt Theodor Morell (1886-1948) ein, die für ein an Guido Knopp und allerlei Filmhitlerei zwischen Der Untergang und Er ist wieder da geschultes Publikum sicherlich den größten Erregungsfaktor bietet. Das eigentlich Überraschende an Ohlers Darstellung ist aber der Nachweis, auf wie viele Bereiche des Militärs, ja der Gesellschaft sich der Drogenkonsum auswirkte. Das erscheint erst einmal widersinnig, wollten die Nationalsozialisten bei ihrem Machtantritt doch mit dem „Sündenpfuhl“ der Weimarer Republik aufräumen, wobei sich physischer Entzug und antisemitische „Entgiftung des Volkskörpers“ auch noch bequem übereinander blenden ließen. Gegen Medikamente ließ sich allerdings wenig sagen. Die Grenze zur Droge verläuft seit jeher fließend – Ohler macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Heroin 1897 als Qualitätsprodukt der Firma Bayer entwickelt und erst Jahrzehnte später verboten wurde – sicher nicht zuletzt, weil es ein ausgesprochener deutscher Exportschlager war.

Was gegen Ende der Vorkriegsjahre Furore machte, war ein Wachhaltemittel der Pharmafirma Temmler, das unter dem Namen Pervitin vermarktet wurde – heute besser bekannt als Metamphetamin oder Crystal Meth, allerdings in etwas geringerer Wirkdosis. Pervitin wurde schnell zur populären Droge, sogar in Pralinen wurde der Stoff verarbeitet. Der Physiologe Otto Ranke testete das Mittel auf seine militärische Verwendbarkeit. Doch obwohl er skeptisch blieb und die Gefahren einer unkontrollierten Einnahme sah, besorgten sich die Wehrmachtssoldaten die Droge eben notfalls selbst –  zum  Beispiel Heinrich Böll, der seine Eltern immer wieder brieflich um das Wundermittel bat, um die Fronteinsätze zu überstehen. Glaubt man Ohler, spielt Pervitin eine entscheidende Rolle im „Blitzkrieg“, besonders bei den Invasionen in Polen und Frankreich. Unter Drogen rollen die Truppen bis zu 17 Tagen ohne Schlaf durch das Land, ohne dass sie ernsthaft aufzuhalten sind. Dass der Vormarsch überhaupt zum Halt kommt und die britischen und französischen Soldaten über den Ärmelkanal entkommen können, ist nach Ohlers Darstellung nur dem Unverständnis Hitlers und des deutschen Oberkommandos zu verdanken, denen der schnelle Durchmarsch unheimlich wird. In der Schlussphase des Krieges dann experimentiert man mit Drogen, die Soldaten helfen sollen, in hochgefährlichen Einsätzen Torpedos von Mini-U-Booten aus abzufeuern.

Ein großer Teil des Buches ist dann aber doch der symbiotischen Beziehung zwischen Hitler und Morell gewidmet. Von 1936 bis in die letzten Tage des Krieges behandelt er den Diktator und überlebt wegen der engen Beziehung sogar einige gegen ihn gerichtete Intrigen. Schritt für Schritt beschreibt Ohler anhand von Morells Behandlungsprotokollen, wie Hitler in der zweiten Hälfte des Krieges zunehmend vom Vegetarier und Abstinenzler zum Drogenkonsumenten wird. Der Konsum seinerseits trägt zu Hitlers zunehmendem Rückzug in seine Befehlsstände und der gewählten Abkapselung von der Öffentlichkeit bei. Beschreibt Ohler in früheren Kapiteln noch Pervitin als einen kriegsentscheidenden Faktor, scheint er bei der Beurteilung der Auswirkungen auf Morells „Patienten A“ unschlüssig. Einerseits betont er in seiner Bilanz Hitler als „eine Gestalt, die an der Nadel hing, an mannigfachen Fäden. Im gleichen Maße, wie er die Welt in den Untergang führte, wurde Hitler Produkt der chemisch-modernen Epoche mitsamt ihrer in sich widersprüchlichen ‚Rauschgiftbekämpfung‘.“ Andererseits betont er die Verantwortung des Diktators und seiner Umgebung: Die „Suchtmittel […] verstärkten nur, was ohnehin angelegt war“. Es ist, als scheute Ohler vor bestimmten Folgerungen zurück, während seine Erzählung doch über lange Strecken darauf hinarbeitet, uns diese nahezulegen – was nichts daran ändert, dass seine Arbeit tatsächlich einen neuen Blickwinkel auf den Wahnsinn des Nationalsozialismus eröffnet, indem er diesen als einen zu überraschend großen Teilen von Drogen induzierten zeigt.

Das Buch ist zudem eloquent und elegant geschrieben; originell ist die Idee, mit einer „Packungsbeilage“ statt einem Vorwort zu beginnen. So sehr sich Der totale Rausch auf die Aussagekraft der Dokumente verlässt, so sehr merkt man dem Text die Sprachgewandtheit des Romanciers an. Würde der Erfolg der Studie dazu führen, dass man auch Ohlers Prosa neu entdeckte, wäre das ein Gewinn.

Titelbild

Norman Ohler: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich.
Mit einem Nachwort versehen von Hans Mommsen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
363 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462047332

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