Handlungsarm, doch stimmungsvoll

Lou Andreas-Salomés Erzählung „Ródínka“ in einer wenig überzeugenden Neuausgabe

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Lou Andreas-Salomé ist eine der tiefsinnigsten und vornehmsten Schriftstellerinnen, die ich kenne“, erklärte die Feministin Hedwig Dohm. Ein geradezu begeistertes Lob, das umso höher zu bewerten ist, als Dohm nicht nur selbst mit einer Reihe von Romanen und Erzählungen hervorgetreten ist, sondern ihre Kollegin keineswegs auf der gleichen Seite der Barrikade im damals vehement ausgefochtenen Kampf um die Rechte der Frau wähnte. Das Gegenteil war der Fall: Dohm rechnete Andreas-Salomé zu den „Antifeministen“, wie sie in einem gleichnamigen Buch ausführlich darlegte und begründete. Es handelt sich um eben die Schrift, in der sie Andreas-Salomé als Literatin rühmt.

Ob diese aber tatsächlich zu den tiefsinnigsten und vornehmsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit zu rechnen ist, mag hier einmal dahingestellt sein. Ihre 1923 und somit rund zwei Jahrzehnte nach Dohms so wertschätzender Beurteilung erschienene Erzählung „Ródinka“ jedenfalls kann schwerlich als Beleg hierfür herangezogen werden. Dazu wirkte der überaus konventionell erzählte Text stilistisch auch damals schon zu sehr aus der Zeit gefallen. Immerhin hatten bei seinem Erscheinen gerade Impressionismus, Expressionismus – auch Dadaismus – und manch andere Stilrichtungen Furore gemacht. Doch mag der Inhalt der Erzählung – die Geschichte eines in der russischen Provinz des 19. Jahrhunderts heranwachsenden Mädchens, das als junge Frau zu einem Besuch in die alte Heimat zurückkehrt – die betuliche und sich ihm durch etliche schon im beginnenden 20. Jahrhundert merkwürdig altbacken anmutende Wendungen anschmiegende Erzählweise entschuldigen. Da wird etwa die Luft „dumpfig“, dann wieder wird ein Student „gefänglich eingezogen“, und ein andermal kommt der Ich-Erzählerin „eine Fotografie in die Hände, welche machte, dass ich die nächsten Nachmittagsbrote mit meinen Tränen salzte“.

Die moderne Orthographie dürfte die Lesenden allerdings bereits vermuten lassen, dass soeben nicht die Ausgabe von 1923 zitiert wurde. Es ist die soeben im Tübinger Belle Époque Verlag erschienene Neuausgabe der Erzählung. Zwar verzichtete der Verlag auf die Beigabe eines Vor- oder Nachwortes, und selbst nach dem Inhaltsverzeichnis hält man vergebens Ausschau. Dafür aber erklärt er auf dem Vorblatt des Bändchens, dass Andreas-Salomés Text von Christian Reichenbach „neu bearbeitet und modernisiert“ wurde. Die Abweichungen sind, abgesehen von der Modernisierung der Orthographie, allerdings eher gering. Dafür aber an umso prominenterer Stelle. Schon die Schreibweise des Titels wurde in „Rôdínka“ geändert und der ursprüngliche Untertitel „russische Erinnerung“ durch „meine russische Kindheit“ ersetzt. Auch die Widmung an Anna Freud weicht von der Erstausgabe ab. Ansonsten entfallen schon mal An- und Abführungszeichen oder eine Hervorhebung. Am gravierendsten – und auch unangenehmsten – aber sind die ganz und gar uneinheitlich gestalteten Kapitelumbrüche der Neuausgabe. Sie lassen die Gliederung des Originals mit ihren zwei Haupt- und etlichen Unterabschnitten nicht einmal mehr erahnen.

Ungeachtet der ursprünglich zwei Hauptkapitel lassen sich drei Teile der Erzählung ausmachen. Erinnert sich die deutschstämmige, auch „Musja“ genannte Ich-Erzählerin Margot zunächst an ihre Kindheit in der Nähe Rôdínkas, so folgt recht unvermittelt ein Besuch in Kiew, den die Protagonistin als fast Erwachsene unternimmt. Beschlossen wird die Erzählung mit ihrer Rückkehr als jung verheiratete, doch noch kinderlose Frau nach Rôdínka. Ihr zwischenzeitlicher, offenbar mehrjähriger Aufenthalt in Freiburg wird zwar erwähnt, aber nicht dargestellt.

Die Erzählung setzt also mit einem Besuch aus Rôdínka im nahegelegenen Zuhause der Protagonistin ein und endet mit einem Gegenbesuch von ihr. Ist ersterer kaum mehr als ein Präludium zur eigentlichen Erzählung und fällt entsprechend kurz aus, so nimmt letzterer den gesamten zweiten Teil der Originalausgabe und somit mehr als die Hälfte des Buchumfanges ein. Zwischengeschaltet ist das bereits erwähnte Intermezzo in Kiew, das sich in der Originalausgabe zwar als letzter Unterabschnitt des ersten Kapitels ausgibt, aber eigentlich für sich steht. Auch diese Eigentümlichkeiten der Gliederung sind in der Neuausgabe verloren gegangen.

Lou Andreas-Salomés Erzählung lässt sich eine geradezu bemerkenswerte Handlungsarmut bescheinigen. Fast fühlt man sich gar an Stifters „Nachsommer“ erinnert. Obwohl sich die Ereignisse in „Rôdinka“ nicht eben überschlagen, entfaltet die Autorin die Persönlichkeiten ihrer Figuren eindrücklich, und leuchtet dabei nicht zuletzt die langjährige Hassliebe zwischen einer Mutter und ihrem Sohn aus. Vor allem aber taucht Andreas-Salomé ihre Lesenden in die ländliche Atmosphäre eines Landstriches, in dem die Zeit stehengeblieben scheint und sich „unbewohnte Strecken, die Menschen von Menschen schieden und die wenig zahlreichen Städte von der großen Einsamkeit, maßlos dehnten“. Fast möchte man von Stimmungsbildern reden. „Im Heu“ etwa, „Im Dorf“ oder „Am Tag der drei Birken“, wie denn auch die Titel dreier aufeinanderfolgender Abschnitte lauten. Diese Stimmungen der „kleinen Heimat“, wie sich der titelstiftende Name eines realen, 250 KM östlich von Moskau am Ilmensee gelegenen Ortes übersetzen lässt, vermag Andreas-Salomé eindrucksvoll zu vermitteln. Auch wirkt die Schilderung des Besuchs einer Pilgerstätte in Kiew mit den Gerippen der ‚Heiligen’, die sich dort zu Lebzeiten einmauern ließen, noch immer schaurig.

Dennoch bietet Andreas-Salomés Erzählung eine keineswegs immer kurzweilige Lektüre, mag auch Anna Freud, für die Andreas-Salomé sie geschrieben hat, um „ihr zu erzählen von dem, was ich am tiefsten geliebt habe“, vermutlich ihre Freude an ihr gefunden habe.

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Lou Andreas-Salomé: Rodinka. Meine russische Kindheit.
Belle Époque Verlag, Dettenhausen 2015.
248 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783945796382

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