Logistiker des Terrors

In seinem Roman „Das Fahle Pferd“ stilisiert sich Boris Sawinkow als professioneller Techniker der terroristischen Gewalt

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen 1906 und 1907 rühmten sich russische Anarchisten und Sozialrevolutionäre, ihre terroristischen Aktivitäten hätten mehr als 4.000 Menschen das Leben gekostet. Doch bedeutete diese quantitative Beschwörung von Menschenopfern, der eine zynische Barbarei eingeschrieben war, keineswegs einen politischen Erfolg gegen die autoritäre Herrschaft des Zarenregimes. Vielmehr schlug der Terror mit der unvermittelten Gewalt des russischen Staates auf die Urheber sowie ihre Gehilfen und Sympathisanten zurück. Eine bittere Ironie der Geschichte war, dass der Chef der Sozialrevolutionäre selbst ein Polizeispitzel war, der im Auftrag des russischen Geheimdienstes seine Mittäter ins Verderben lockte, ehe er enttarnt wurde und sich als Miederwarenhändler und Börsenspekulant im Berliner Exil durchschlug.

In seinem Artikel „Der Bankrott des individuellen Terrorismus“ aus dem Jahr 1909 wies Leo Trotzki – im Kontext der Enttarnung des Chefs der Sozialrevolutionäre (SR) – auf die fehlende revolutionäre Grundlage in Russland hin, die vorwiegend intellektuelle Bewegungen wie „Narodnaja Wolja“ („Wille des Volkes“) durch Terror herstellen wollten, ohne dass sie realiter Kontakt zu der Bevölkerung besaß, die sie beglücken wollten. Nach der klassischen marxistischen Interpretation beabsichtigte eine abgesprengte Elite, revolutionäre Verhältnisse „herbeizubomben“, ehe die ökonomische Basis für eine revolutionäre Umgestaltung bestand. Ihren revolutionären Enthusiasmus wollte sie – wie Trotzki es sah – durch die „Sprengkraft des Nitroglyzerins“ vervielfachen, wurde aber von „der Geschichte“ überholt, da nach dem „blendenden Blitz der explodierenden Bombe“ nichts übrig blieb. Die Logik des Terrorismus reduzierte sich auf das Absolute, auf das blanke Resultat von Addition und Subtraktion, wobei in erster Linie die negativen Werte vorherrschten.

Ein Repräsentant dieser „Logik des Terrorismus“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der russische Intellektuelle Boris Sawinkow, der sich kurz nach der Jahrhundertwende der Kampforganisation der Sozialrevolutionäre anschloss und in den Jahren zwischen 1904 und 1905 an den Attentaten auf den russischen Innenminister Wjatscheslaw von Plehwe als auch den Großfürsten Sergej Romanow beteiligt war. Bald darauf wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt, doch gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis ins europäische Ausland. In einem Artikel für die „New York Times“ am 10. September 1911 beschrieb Sawinkow die komplette Isolation, in der das „Kampfkommando“ der Sozialrevolutionäre „vollkommen losgelöst“ von jeglicher Verbindung zu revolutionären Kräften in Moskau agierte.

In seinem 1909 publizierten Roman „Das fahle Pferd“ reflektiert Sawinow seine terroristischen Aktivitäten des Jahres 1905. In Form eines Tagebuches beschreibt ein Protagonist namens George die Vorbereitungen zu einem Attentat auf einen namenlosen Provinzgouverneur, wobei der Titel dieses „Romans eines Terroristen“ auf die Johannes-Offenbarung rekurriert: „Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der daraufsaß, der Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach“. Der Roman bietet Innenansichten eines Technikers und Logistikers des Terrors, dessen Handeln einzig und allein von Entfremdung und Zynismus bestimmt ist. Im Gegensatz zur revolutionären Leidenschaft des Terroristen Alexander Berkman, der 1892 während eines Stahlarbeiterstreiks in Pennsylvania den Kapitalisten Henry Clay Frick zu erschießen suchte und später sein Scheitern in seinen „Prison Memoirs of an Anarchist“ (1912) reflektierte, bleibt George alias Sawinkow stets nur ein dandyhafter Techniker der Gewalt. „Ich glaube an die Gewalt, nicht an Worte“, heißt es an einer Stelle des Romans. „Wenn ich könnte, würde ich alle Oberen und alle Herrschenden töten. Ich will kein Knecht sein. Und ich will nicht, dass andere Menschen Knechte sind.“

Zugleich aber nimmt er die ihn beschattenden Detektive im antisemitischen Raster wahr. In der Paranoia des Terroristen betrachtet er angebliche Detektive der Staatsmacht stets nur als Juden: Der Feind tritt im Klapphut und mit „schwarzem kurzem Bart“ auf. „Mit den Augen suche ich nach dem Juden“, notiert George. „Aber ja, natürlich, da ist er schon – unter dem geschnitzten Torbogen.“ Doch obgleich „George“ sich als „unabhängiger Unternehmer“ im Terrorgeschäft darstellt, ist er Abhängiger im Netzwerk der „Sozialrevolutionäre“, das über seine Tätigkeit bestimmt und ihn zum bloßen Werkzeug übergeordneter Interessen degradiert. „Das Komitee hat beschlossen, den Terror zu verschärfen“, deklariert der bürokratische Chef der Revolutionäre, die bereits im Anfangsstadium die polizeiliche Struktur des Apparats verkörperten, die später auf das staatliche Gebilde übertragen wurde. „Der Terrorist und der Polizist stammen aus dem gleichen Nest“, heißt es in Joseph Conrads Roman „Der Geheimagent“ (1907), der den Polizeistaat als logische Fortsetzung einer revolutionären Staatlichkeit antizipierte. Sawinkow selbst blieb stets der „Techniker des Umsturzes“, der nach dem Triumph der Bolschewiki von Technikern der Staatsmacht wie Grigori Sinowjew (der später selbst den stalinistischen Säuberungen im Jahre 1936 zum Opfer fiel) als „Konterrevolutionär“ stigmatisiert wurde (wie die Anarchistin Emma Goldman in ihren Memoiren berichtete).

Im Nachwort zeichnet der Historiker Jörg Baberowski Sawinkow als Prototypen des Terroristen, wobei er eine Typologie ohne historisches oder soziologisches Differenzierungsvermögen entwirft. „Sawinkow führte die Existenz eines modernen Gewaltunternehmers“, doziert er, „der Hotelzimmer mietete, um Attentate vorzubereiten, potenzielle Opfer ausspähte, nach Geldgebern suchte und mit Auftraggebern zusammenkam.“ Die Problematik liegt in der unkritischen Akzeptanz der vorgeblichen „Authentizität“ des Romans, die jedoch fraglich ist. Spiegelte diese düstere Erzählung tatsächlich die innere Realität des Terrorismus der „Sozialrevolutionäre“ wider, wie sie Sawinkow sah, oder war sie eher ein modisches literarisches Experiment, das unverzüglich von den SR-Gremien als „konterrevolutionär“ verdammt wurde? In seiner Geschichte des Terrorismus „The Infernal Machine“ (2006) beschreibt Matthew Carr den Roman als „dekadente Erzählung“, welche Momente des Ennui und des Zynismus einfängt, ohne tatsächlich die Realität der russischen Gesellschaft im Jahre 1905 wahrzunehmen. Am Ende agiert George wie ein lebensferner Dandy, den Joris-Karl Huysmans beschrieb: „Er lebte ganz auf sich bezogen, nährte sich von der eigenen Substanz, gleich den erstarrten, winters in ein Loch gekauerten Tieren; die Einsamkeit hatte auf sein Hirn wie ein Narkotikum gewirkt.“ Schließlich ist der isolierte, sich selbst bespiegelnde „Techniker der Gewalt“ auf eine schattenhafte Existenz in einer „roten Wüste“ der Kälte und Entfremdung zurückgeworfen, aus der es kein Entrinnen gibt.

Titelbild

Boris Sawinkow: Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen.
Kommentiert und mit einem dokumentarischen Anhang versehen von Alexander Nitzberg.
Übersetzt aus dem Russischen von Alexander Nitzberg.
Galiani Verlag, Köln 2015.
290 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783869711140

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