„Und mein Herz begann zu hämmern“

Astrid Lindgrens Briefwechsel mit einem Kind

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob Sara Ljungcrantz mit einer Antwort gerechnet hat, als sie der weltberühmten schwedischen Kinderbuchautorin schrieb? Sie muss es wohl geahnt haben, dass sie etwas Ungewöhnliches tat. „Da bin ich wieder“, heißt es zu Beginn ihres zweiten Briefes: „Schon ein paar Tage nachdem ich den vorigen Brief abgeschickt hatte, habe ich es bereut. Ich mache immer wieder eine Menge Sachen, die ich hinterher bereue. Das Schlimmste ist, dass man jedes Mal einen anderen Eindruck von mir kriegt. Jetzt bin ich selbst schuld, weil ich diesen idiotischen Brief geschrieben habe. Was Du für einen Eindruck von mir hast, daran kann ja kein Zweifel bestehen. Andere Menschen kriegen andere Eindrücke von mir. Das liegt daran, dass ich immer wieder anders bin, manchmal dumm (so wie jetzt) und manchmal vernünftig.“ Astrid Lindgrens Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Hier die Perspektive der Briefempfängerin: „Ich sah einen Brief auf dem Bücherregal liegen. Ein Brief an mich, dachte ich. Sehe ich Gespenster? Ich riss ihn auf, las die Adresse oben links. Und mein Herz begann zu hämmern.“

Der Beginn einer Brieffreundschaft mit Herzklopfen erinnert an eine Liebeserklärung. Zuneigung sowie Anteilnahme sind von beiden Seiten vorhanden: „Du lieber Himmel, hab ich mich gefreut, weil Du zu mir hältst“, schreibt Sara Schwardt (alias Ljungcrantz) an Astrid Lindgren. Die Schülerin sieht in der bekannten schwedischen Schriftstellerin, die sie seit einiger Zeit in ihren Befreiungsversuchen vom Elternhaus bestärkt, „die erste erwachsene kluge Person“, der sie sich anvertrauen kann.

Ihr erster Liebeskummer ereilt Sara auf einer Fahrt nach Gripsholm, mit dem 17-jährigen Hans, denn der liebt Marie, ein Mädchen aus dem Iran:

Eines Abends, kurz vor dem Schlafengehen, fragte Hans, ob Marie am nächsten Morgen um halb sieben mit ihm schwimmen gehen wollte, und da war ich so verzweifelt, dass ich rauslief, das Fahrrad nahm und durch Dunkelheit, Platzregen und Gewitter losradelte, ohne zu wissen, wohin, und zum ersten Mal hab ich wegen eines Jungen aus der Tiefe meiner Verzweiflung geweint. Ich fühlte mich so einsam und unglücklich, aber auch glücklich, weil ich solche Gefühle überhaupt hatte. Ungefähr um elf Uhr kam ich nach mindestens zwei Stunden Radfahren erschöpft und ohne einen trockenen Faden am Leib zurück, da hab ich nicht geweint, da war ich ganz leer und gefühlskalt.

Sara ist 15, als sie dies schreibt, und oft erstaunt man, wie gut sie sich bereits artikulieren kann. Ihre Briefe sind schwungvoll und lebendig, extrem schwankend in den Gefühlslagen und oft bemerkenswert deutlich, wenn es um intime oder gar sexuelle Dinge geht. Obwohl der Selbstbezug alles dominiert, hat Sara doch einen guten Blick für ihre Mitwelt – und vor allem für ihre Adressatin und deren Bücher: „Im Fernsehen hab ich gesehen, dass Du den Ehrendoktor bekommen hast, wie gut. Glückwunsch! Jetzt ist wohl nur noch der Nobelpreis übrig.“

Obwohl sie Berge von Post bekommt, die sie gar nicht bewältigen kann, lässt sich Astrid Lindgren auf diesen Briefwechsel ein. Sie öffnet sich, bleibt aber auch vorsichtig: „Ist es Dir möglich, dafür zu sorgen, dass niemand außer Dir diese Briefe liest? Kann ich Dir alles schreiben, was mir einfällt? Leb wohl, Sara, meine Sara!“ Lindgren definiert die Grenzen der Mitteilung als die Grenzen der Person: „Kein Mensch öffnet sich voll und ganz, auch wenn er sich danach sehnt, das tun zu können“, schreibt sie am Silvesterabend 1973.

Eine Quintessenz des Briefwechsels lautet, dass wir wie „Nomaden“ seien, „eingeschlossen“ in unserer Vereinzelung und Einsamkeit. Diese Einsamkeit ist, von Beginn an, ein großes Thema des Briefwechsels – ein Sehnsuchtsort und zugleich eine Qual, der man brieflich begegnen kann: „melde Dich wieder und erzähle, wie es mit der Liebe und ganz allgemein mit dem Leben bei Dir ist.“

Lindgren spendet Lebensmut und teilt ihrer Briefpartnerin von den Lebensregeln mit, die sie aus eigenem Erleben und eigener Anschauung für sich aufgestellt hat. Ihr Bemühen, weder zu belehren noch sich einzumischen, aber auch konkrete Hilfe nicht zu verweigern, wo sie gefordert ist, ist in jedem Brief spürbar. Lindgrens Briefe sind naturgemäß grundsätzlicher und abgeklärter, während Saras Briefe stärker den konkreten Vorfall zum Anlass nehmen und dazu tendieren, auch kleine Nöte zu dramatisieren; aber im Alter von 17 Jahren passiert ihr eine wirklich böse Geschichte – sie wird als Anhalterin in Italien vergewaltigt.

Sara, das „kleine Springkraut“, und Astrid Lindgren, die weltweit bekannte schwedische Kinderbuchautorin, deren Zeit „so wahnsinnig verplant“ ist, sind ein ungleiches Paar. Sie staunen, wie viele Briefe sie sich schon geschrieben haben – und wie sehr in wenigen Jahren das Briefporto gestiegen ist! In den 1980er-Jahren werden die Briefe seltener (und kürzer), der „Kummerkasten“ wird nicht mehr so oft benötigt, aber die alten Briefe wirken nach – sie ersetzen das Gespräch, das man persönlich nicht führen kann. In einem letzten großen Brief dankt Sara, sie ist inzwischen selbst Ehefrau und Mutter, ihrer langjährigen Brieffreundin für ihre „Fürsorglichkeit“ und ihr „unermüdliches Engagement“: die „bedingungslose Liebe“, die Astrid Lindgren ihr durch ihre Briefe geschenkt habe. „Es berührte mich so tief“, schreibt Sara im Frühjahr 1992, als sie sich die Briefe wieder einmal vorgenommen hat: „Mir kam alles so unglaublich vor . […] Ich wusch mich und weinte und lag lange wach und dachte an Dich und an alles, was wir über das Leben und den Tod und all den Schmerz, der dazwischen existiert, geschrieben hatten.“

Titelbild

Astrid Lindgren / Sara Schwardt: Deine Briefe lege ich unter die Matratze. Ein Briefwechsel 1971-2002.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer.
Oetinger Verlag, Hamburg 2015.
237 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783789129438

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