Sensible Blicke auf „Filmkunst“

Die Filmkritiken von Brigitte Desalm

Von Peter EllenbruchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Ellenbruch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die für die Film- und Literaturwissenschaft gleichermaßen wichtige Reihe Film & Schrift ist mit der Publikation von Brigitte Desalms Filmkritiken um einen Band mit vergleichsweise neuen Texten – von 1980 bis 2002 – erweitert worden. Diese Nähe zum aktuellen Geschehen bringt eine wenig historisierende Art der Herausgabe mit sich. Thomas und Sascha Koebner schreiben aus den Perspektiven zweier Generationen sehr persönliche einleitende Essays zu ihrer Kollegin und Freundin Brigitte Desalm, wodurch sich die Charakterisierung einer feinfühligen, unprätentiösen und präzisen Autorin herausschält. Bei ihren Filmbetrachtungen ging Desalm mit breiter historischer Kenntnis, großem Respekt vor der Arbeit und den Werken der Filmeschaffenden sowie über Jahrzehnte hinweg mit uneingeschränkter Lust am Kinoerlebnis vor. Daher beginnt man als Leser die Lektüre der hier ausgewählten Filmkritiken mit hohen Erwartungen.

Von 1972 bis zu ihrem Tod 2002 war Desalm Fachjournalistin beim Kölner Stadt-Anzeiger – erst bei der Gestaltung der Fernsehseite, dann seit 1980 als Leiterin der Filmabteilung. Darüber hinaus schrieb sie für die Zeitschrift steadycam und für die Sendungen Filmtip und Film aktuell des WDR Fernsehens. Bei einem so groß angelegten Tätigkeitsfeld kann der vorliegende Band natürlich nur einen Teil des Schaffens der fleißigen Journalistin präsentieren, weshalb nur Filmkritiken aus dem bereits genannten Zeitraum und ausgewählte Portraits von Kinopersönlichkeiten aufgenommen wurden.

Doch diese Auswahl taucht mit dem besonderen Blick Desalms, der sich in ihrem Schreibstil manifestiert, in über zwei Jahrzehnte westdeutscher Kinokultur ein. Durch das recht vorbehaltlose Schauen der Autorin bekommt man einen Überblick über Kinostrukturen jener Zeit zwischen Mainstream- und Programmkino. Dabei gibt es Rezensionen zu nahezu allen Genres sowie zu Werken verschiedener Kino-Nationen, die damals im hiesigen Kino präsent waren. Dieser Überblick setzt sich mosaikartig aus den gleichermaßen behutsamen und kritischen (sowie pointiert anspruchsvoll-literarisch formulierten) Stellungnahmen von Desalm zusammen. Diese schaffen es meist, Plot, Produktion und Stil eines Films so zu repräsentieren, dass man sowohl einen medienspezifischen Eindruck des Werks bekommt als auch die Rezension als Diskussionsbeitrag in einem größeren Rahmen von (Kino-)Kulturbetrachtung wahrnimmt. Letzteres wird einerseits durch die immer durchscheinende persönliche Begeisterung respektive behutsame Ablehnung der Autorin hervorgerufen, welche die Besprechungen nie zu hermetisch abgezirkelten „Kritikermeinungen“ machen, andererseits durch die vielen Verweise auf andere Werke aus Film und Literatur sowie Einbettungen in zeitgeschichtliche oder politische Zusammenhänge.

So bezieht Desalm zum Beispiel bei ihrer Betrachtung von Schlöndorffs Die Fälschung (1981) gleichermaßen die „literarische Vorlage“ von Nicolas Born wie auch eine Reflexion zu medialen Kriegsbildern des damaligen Libanon-Konflikts ein, um am Film eine zu eindimensionale Haltung gegenüber beidem zu kritisieren. An anderer Stelle gerät die Rezension zu Finchers Fight Club (1999) durch die Analyse der Filmdramaturgie zur Gesellschaftsreflexion bezüglich des damaligen Verhältnisses von Männlichkeitswahn und Kino. Ebenso ist die Kritik zu Cronenbergs The Fly (1987) durch Kontextualisierungen von Körpermotiven eher eine Genredefinitionsminiatur, die über eine einfache Filmbesprechung hinausgeht.

Oft gibt es über den zur Kritik vorliegenden Film hinaus Bezüge zu anderen Filmen der Regisseurinnen und Regisseure, die ein Spektrum von Werk und Schaffen skizzieren und zum Weitergucken anregen (was die Herausgeber des Bandes mit zusätzlichen filmographischen Angaben zu allen erwähnten Werken tatkräftig unterstützen).

So erlebt man, was in den beiden Jahrzehnten vor der flächendeckenden Verbreitung des Internets innerhalb der Filmkritik in der Tagespresse möglich war. Desalm hat sich Zeit gelassen, um eine kritische Haltung zu den Filmen zu formulieren, genauso müssen (und können) sich Leserinnen und Leser Zeit lassen, um die Rezensionen nachzuvollziehen, jene als diskursive Form zu durchdenken und danach zu handeln. Es gab noch eine Kultur der Filmrezension als Beiträge zu einer Kinodebatte, die heute jenseits der Fachpresse fast verschwunden ist (stattdessen gibt es nun im Netz endlos viele tagesaktuelle „Meinungen“ zu Filmen, die oft nur etwas über die Befindlichkeit der Schreiberlinge aussagen, mit den Filmen als Werke jedoch wenig zu tun haben).

Doch Desalm ist wie viele Filmkritikrinnen und Filmkritiker eine Person ihrer Zeit – und das Selbstverständnis einer (journalistischen) Filmbetrachtung, die innerhalb der 1960er- und 1970er-Jahre sozialisiert wurde, bestimmt den Hauptblickwinkel der Rezensionen. So sensibel und ausgewogen kritisch die Rezensionen sowie die Kontextualisierungen auch sind, sie gehen alle davon aus, dass es beim Kino um „Filmkunst“ gehe. Das sogenannte „Autorenkino“ ist der Hauptmaßstab der Betrachtung. Dabei werden Regisseurinnen und Regisseure als Werksverantwortliche angenommen, dazu gesellen sich die „Künstlerinnen und Künstler“ für Drehbuch, Kamera und Schauspiel. Wer nach Stellungnahmen zu einem prinzipiellen, direkteren Verhältnis von Kinobildern und Gesellschaft jenseits einer Kunstdebatte sucht (wie sie etwa oft in Filmrezensionen der 1920er-Jahre üblich waren) oder nach anderen filmischen Produktionsarten und Rezeptionsperspektiven, wird hier kaum fündig werden. Und wenn Sascha Koebner in seinem Einleitungsessay anmerkt, dass Desalm eine Affinität zum Genrekino gehabt hätte, meint er damit vor allem die A-Picture-Genreproduktionen des Hollywood-Kinos. Den Weg ins Bahnhofskino der 1980er- oder in die Untiefen des epigonalen aber unterhaltsam-explosiven Genre-B-Kinos der 1990er-Jahre scheint Desalm nicht gefunden zu haben.

Doch auch wenn dieser Zugang zum kompletten Spektrum des populären Films hier nicht angelegt wird und die Idee von „Filmkunst“ ständig wirkt, werden die hohen Erwartungen, die die Koebners zu Beginn des Bandes aufrufen, erfüllt. Wer literarisch ausgefeilte, prägnant und nie gedrechselt formulierte sowie fachlich fundierte und gesellschaftlich reflektierte Filmrezensionen der Tagespresse lesen möchte, sollte sich diesen Band mit Kritiken von Brigitte Desalm nicht entgehen lassen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rolf Aurich / Wolfgang Jacobsen / Sascha Koebner / Thomas Koebner (Hg.): Brigitte Desalm. Filmkritikerin.
Film & Schrift Band 19.
edition text & kritik, München 2015.
308 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783869164052

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch