Psychoanalyse im attraktiven literarischen Gewand

Marta Karlweis’ Sittengemälde des Bürgertums der Habsburgermonarchie wiederentdeckt

Von Julian KöckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Köck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Januar 1889 erschoss der österreichische Kronprinz Rudolf auf Schloss Mayerling zuerst seine Geliebte Baroness Mary Vetsera, zu diesem Zeitpunkt gerade 17 Jahre alt, und anschließend sich selbst. Den Kronprinzen musste man für unzurechnungsfähig erklären lassen, um seinen Körper der geweihten Erde zu übergeben, viele Dokumente sind verschwunden – bis heute weiß man über die genauen Umstände wenig. Einen schlimmeren Skandal mag man sich für eine Monarchie kaum ausmalen.

Es ist also ganz folgerichtig, dass Marta Karlweis ihre 1929 veröffentlichte Polemik „Ein österreichischer Don Juan“ gegen die Gesellschaft zu Zeiten der Habsburgermonarchie mit diesem Skandal beginnen lässt. Die Hauptfigur Erwein von Raidt – der „österreichische Don Juan“ – erfährt, dass den (toten) Kronprinzen kompromittierende Briefe im Umlauf sind, und kauft diese für viel Geld. Der äußere Schein – diese Botschaft vermittelt der Roman wieder und wieder – ist wichtiger als das moralische Verhalten. Man mag dies als triviale Erkenntnis erachten. Der Roman gewinnt indes eine große Lebendigkeit dadurch, dass die Autorin, die im Roman als Ich-Erzählerin vorkommt, Zeitzeugin gewesen ist.

Die im Jahr der oben beschriebenen Tragödie Geborene betrachtete die Gesellschaft keineswegs von außen, sondern tummelte sich in ihrer Mitte. Ihr Vater Carl Karlweis war Direktor der Südbahngesellschaft, der als Hobby Mundartstücke schrieb, sie selbst besuchte die berühmte Schwarzwaldschule und den Salon der Berta Zuckerkandl. Nicht zuletzt deswegen ist es erfreulich, dass der Wiener Verlag „Das vergessene Buch“ es sich zum Ziel gesetzt hat, der Autorin, die trotz ihres zeitgenössischen Erfolgs in Vergessenheit geraten ist, eine kleine Renaissance zu ermöglichen. Ein kurzer Kommentar und der Abdruck mehrerer Rezensionen sind der hier besprochenen Ausgabe beigefügt.

„Ein österreichischer Don Juan“ ist allerdings ein merkwürdiges Buch. Der Titel gibt dem Leser vor, wie er die Hauptfigur Erwein von Raidt zu deuten hat, doch geht es in Wirklichkeit gar nicht um diesen vermeintlichen Don Juan, sondern um eines seiner Opfer, Cecile Löwenstein, das dann aber eigentlich doch weniger Opfer des Monarchisten und Ästheten ist, als das ihres eigenen selbstgefälligen Fatalismus. Dass die junge Cecile ihren Erwein und seinen (schlechten) Charakter genau gekannt hat, wird ausdrücklich betont. Wirklich sympathisch wird dem Leser keine der oftmals arg überzeichneten Figuren, sei es Ceciles antisemitische Mutter, deren gestorbener Ehemann Jude war, die sabbernde Tante, die Glück nur verspürt, wenn sie andere anschwärzen kann, oder sei es die selbstgerechte Lehrerin – von Raidts skurriler Entourage, die er nach dem Verfall des österreichischen Kaiserreichs um sich schart, gar nicht erst zu reden.

Die moralische (und auch ästhetische) Ungenießbarkeit der Figuren unterstreicht den Abscheu vor der verkommenen Gesellschaft. Allerdings ginge man fehl, würde man den beim Lesen evozierten Ekel nur auf die österreichische Gesellschaft zur Zeiten der Monarchie beziehen: Die präzise herausgearbeiteten Makel sind vielmehr universal, weswegen der Roman keineswegs nur von historischem Interesse ist. Der heutige Leser wird ganz konkret mit seinen eigenen Widerwärtigkeiten konfrontiert. Die treffenden psychologischen Skizzen, die interessanter als die eigentliche Handlung sind, können als Menetekel ihrer späteren beruflichen Karriere verstanden werden: Nach dem Tod ihres (berühmten) Gatten Jakob Wassermann am 01.01.1934 studierte Karlweis unter anderem bei Carl Gustav Jung Psychologie und arbeitete später in Ottawa als Psychotherapeutin. Ohne Zweifel wird ihr ihre im „Österreichischen Don Juan“ bewiesene Menschenkenntnis dabei sehr geholfen haben.

Man kann das Buch über weite Strecken als Psychoanalyse im literarischen Gewand, gekleidet in schöne Sprachbilder und ergänzt um viele zitierfähige Aphorismen („Alle Reife entsteht durch […] Höllenwanderung der Phantasie“), begreifen. Das ist gewiss nicht das Schlechteste, was man über einen Roman mit diesem Sujet sagen kann.

Dass dieser gerade auch für an Feminismus und Frauengeschichte interessierte Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler von großem Interesse sein wird, mag der letzte Satz des Buches andeuten: „Denn in Schuldige und Unschuldige teilt ja ihr Männer die Welt.“

Titelbild

Marta Karlweis: Ein österreichischer Don Juan. Roman.
Das vergessene Buch – DVB Verlag, Wien 2015.
270 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783200042599

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