Kinder allein zu Haus
Liliana Corobca verhandelt in ihrem neuen Roman „Der erste Horizont meines Lebens“ ein ernstes soziales Problem nicht nur der Republik Moldau
Von Anke Pfeifer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVerzweifelt suchen drei Geschwister im Dorf nach einem Erwachsenen, der dem Bruder die Angst einflößende Zecke entfernen könnte. Schon stellt sich der fünfjährige Dan in panischem Schrecken vor, nicht nur er, sondern „Hunderte vom Blut der Kinder aufgedunsene Zecken schweben im freundlich heiteren Himmel, und die Kinder weinen, dünn und vertrocknet kleben sie an dem unbarmherzigen Ungeziefer.“
So beginnt das neue Buch „Der erste Horizont meines Lebens“ von Liliana Corobca. Die aus der Republik Moldau stammende Autorin wendet sich nach dem Thema Verschleppung und Zwangsprostitution von Frauen aus Osteuropa, das sie in ihrem Roman „Ein Jahr im Paradies“ aufgegriffen hat, nun den sogenannten „Euro-Waisen“ zu: Kindern, die von ihren im Ausland arbeitenden Eltern in der Heimat zurückgelassen wurden. Es gibt sie nicht nur in der Republik Moldau, sondern auch in Rumänien, Polen, Bulgarien oder der Ukraine. Es handelt sich dabei keineswegs um Einzelschicksale, sondern mittlerweile um ein Massenphänomen. Die Eltern treibt die materielle Not in ihrer Heimat zu diesem Schritt, der ihnen keinesfalls leichtfällt. Aber sie tun es auch und gerade für die Zukunft ihrer Kinder.
Wie es um den Alltag und vor allem das Innenleben der zurückgelassenen Kinder steht, das schildert Corobca beispielhaft und sehr einfühlsam am Leben dreier Geschwister. Als große Schwester übernimmt die erst 12-jährige Cristina für Jahre die Rolle sowohl der Mutter als auch des Vaters, die beide zum „langen Geld“ gegangen sind: der Vater nach Jakutien, die Mutter kümmert sich in Italien um die Kinder einer dortigen Familie. Nur selten kommen die Eltern zu Besuch, das nächste Mal ist erst geplant, wenn die Großmutter gestorben sein wird. Weinen dann alle vor Trauer oder vor Glück?
Cristina muss also neben ihrem Schulbesuch den Haushalt und die beiden jüngeren Brüder – der jüngste, Marcel, ist erst drei Jahre alt – versorgen. Sie kocht, bäckt, wäscht, putzt, sie kümmert sich rührend um die Kleinen, schlichtet Streit, erzieht, tröstet und verteidigt sie. Dennoch bleibt vieles ungetan. Niemand bringt mehr Früchte aus dem Wald, knackt Nüsse, schützt das Anwesen vor Dieben, erledigt die Weinlese. Dabei ist Cristina selbst noch ein Kind, das der elterlichen Fürsorge bedarf.
In Form eines Briefes an die Eltern, mittels innerem Monolog beziehungsweise an einen imaginären Zuhörer gerichtet – die Übergänge sind fließend –, berichtet Cristina über die mit Arbeit angefüllten Tage, von ihren Erlebnisse mit den Brüdern, mit anderen Kindern und den übrigen Dorfbewohnern. Sie reflektiert ihr eigenes Verhalten und das alles mit der Ernsthaftigkeit eines zu früh erwachsen gewordenen Mädchens: „Dann sind die Jungs zum Spielen gegangen, und wir, die Mädchen, sind noch eine Weile beisammen geblieben, um über Hauswirtschaft, Mode und Männer zu reden.“ Mal wirkt sie altklug, mal verdrossen, sie äußert leise Vorwürfe, beschwert sich über die Belastung, aber immer wieder ermutigt sie sich selbst. Ihre Berichte zeugen von ihrer zupackenden Art. Und sie möchte alles richtig und zur Zufriedenheit der Eltern tun. So übt sie sich in noch ungewohnten Tätigkeiten, macht sich über Erziehungsziele, die Rolle von Frauen, Männern und Kindern, auch über die Liebe, ihr Land und das ihr so ferne, unbekannte Europa Gedanken. Sie versucht, den allgegenwärtigen Kummer über die Abwesenheit der Eltern zu bewältigen. So macht sie für sich und die Brüder „ein Programm: Die Zeit zum Weinen: acht Uhr abends.“
In fröhlichen Stunden verkleiden sich die drei Geschwister mit den Anziehsachen der Eltern. Oder man probiert mit anderen Dorfkindern in einer imaginären Erwachsenenwelt unterschiedliche Berufe aus. Das Spiel, das jemand aus Deutschland mitgebracht hat, nennen sie „Kinderland“, wie übrigens auch der Originaltitel sehr passend lautet.
Doch das Leben im Dorf ist schwer. Die Bevölkerung lebt in Armut und es fehlt an allem. Nur Wein ist genug da, denn kein Händler kauft ihn mehr. Manche Nachbarn sind nett, andere Männer trinken, verprügeln ihre Frauen und auch die Kinder, die den Erwachsenen schutzlos ausgeliefert sind. Entsprechend roh ist oft auch das Verhalten der anderen Kinder. Es hat etwas düster Märchenhaftes, wenn ein Junge „bei einer bösen Großmutter“ bleiben muss oder die Mutter vom Nachbarjungen Gheţă droht, die illegitimen Kinder, die ihr Mann während seines Arbeitsaufenthaltes zeugte und nun ins Haus mitgebracht hat, in den Wald zu schaffen, wo sie Hungers sterben sollen.
Dieser facettenreiche Zustandsbericht, in dem mitunter auch deutlich die erwachsene Stimme der Autorin durchscheint, vermag nur schwer, den Spannungsbogen zu halten, schier endlos scheinen einzelne deprimierende Episoden aneinandergereiht. Zum Ende hin nimmt Cristina an alten geheimnisvollen Initiationsriten teil, die auf die Erwachsenenwelt vorbereiten sollen, in der sie eigentlich längst angekommen ist, die aber, wie auch die letzten Episoden um ein Wildschwein im Wald, als Flucht aus der tristen Realität hin zu Selbstbestimmung gedeutet werden können.
Die sich mitunter sehr nahe am Rumänischen haltende Übersetzung schafft dann ein besonderes Kolorit, wenn beispielsweise ein Mädchen blau-blaue Augen im Sinne von „ganz blaue Augen“ hat, andererseits stockt man bei der Lektüre, wenn der Bauer das Kind fragt „Wem gehörst du?“, statt richtiger „Zu wem gehörst du?“ Oder auch: „sie pisst sich an“, statt „sie pisst sich ein“. Trotz dieser kleinen Fehler ist die Übersetzung von Ernest Wichner gelungen.
Die über eine erschreckende Wirklichkeit unserer Tage aufklärende Lektüre macht ebenso deutlich, dass Menschen an ihren Aufgaben wachsen (können). Aber im realen Europa zahlen Kinder und auch die Eltern einen zu hohen Preis und längst nicht alle bewältigen die psychischen und physischen Belastungen so souverän wie die Protagonistin des Romans.
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