Luther und Melanchthon in den Kochtopf geschaut

Leo Vogt schreibt eine kleine Geschichte des Essens zu Zeiten der Reformation

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es leuchtet ein, dass der Spross einer württembergischen Familiendynastie von Wirten, Bäckern und Metzgern eine kleine Geschichte des Essens verfasst. Aber warum gerade eine, die sich auf die Jahre 1500 bis 1550 und damit auf die Reformationszeit in Deutschland konzentriert? Als solche präsentiert sich das vorliegende Kochbuch mit der Handreichung von 128 Rezepten. Die Antwort ist leicht: Leo Vogt bereitet jedes Jahr beim „Peter und Paul Stadtfest“ im württembergischen Bretten mit seiner Garküche in authentischer Weise historische Speisen zu; eine Darstellung der Essgewohnheiten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sollte im Spektrum der Publikationen zum bevorstehenden Reformationsjubiläum nicht fehlen; schließlich ist der Autor nur einen Steinwurf entfernt von Bretten aufgewachsen, dem Geburtsort Melanchthons. Der ist zwar nicht als Schlemmerer bekannt, er stellt aber den Anschluss zu Luther her, dessen Appetit der asketischen Gelehrsamkeit des Mitstreiters wunderbar kontrastiert.

Richtig zu Wort kommt der Autor ab Seite 25, wenn er sich unter der Überschrift „Ragout mit Nachtigallenzungen?“ an die Anfänge seiner historischen Rezeptfindung erinnert, die er mit dem Konzept „gelebter Archäologie“ charakterisiert. Zuvor erscheinen Bretten und Wittenberg auf einer Westeuropakarte um 1550 als die wichtigsten Koordinaten der Welt. Die konstruierte Nachbarschaft der religionsgeschichtlich kaum vergleichbaren Orte ergibt sich natürlich aus Melanchthons Herkunft, seinem Umzug nach Wittenberg und der Nähe und Freundschaft zu Luther. Zwei kurzweilige Grußworte der Oberbürgermeister der beiden Städte, Torsten Zugehör (Wittenberg) und Martin Wolff (Bretten), unterstreichen den Städte- und Personennexus. Vogt formuliert dann genauer sein Anliegen, es gehe ihm darum, durch die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Kochkunst ein Kulturgut zu bewahren, das durch Gaumen und Magen geht. Zugleich gelte es, „mit falschen Übersetzungen und Übertragungen von Germanisten wie etwa dem ‚Ragout von 1000 Nachtigallenzungen‘ und Beschreibungen von Historikern zu brechen, die da lauten ‚da werden Därme gekocht‘.“ Schließlich solle bei dieser Unternehmung „das Leben des Reformators Martin Luther ebenso wie das des Humanisten Philipp Melanchthon“ gestreift werden.

Los geht es mit dem mobilen Bäcker Gotthilf Eberle, dessen Einsatz im historischen Präsens vorführt, wie ein Backofen auf Rädern funktionierte, wie die Besorgung der Zutaten und der Verkauf der Backwaren vor sich gingen und dass ohne Zunftrecht weder Bäckerei noch Vertrieb statthaft waren. Ihm zur Seite gesellt sich der Bauer Scholl, der für seinen Honig wie für seine eingekochten Früchte und Dicksäfte berühmt war. Taten sich beide zusammen, würden gute Produkte entstehen. Zahlreiche Farb- und Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Gouache und Holzschnitte veranschaulichen historische Backumgebungen, zeigen den Autor beim Backen mit altertümlichem Gerät sowie knusperfrische Brote. Es schließen sich keine Backrezepte (die folgen später), dafür Herstellungsprozeduren für Speisen an, die in die Rubrik „Eindicken & Trocknen“ gehören. Die Produktpalette reicht von „Brombeer-Marmelade mit Honig und Agrez“ über „Fruchtmus“ bis zu „Getrockneten Pilzen“. Das Prinzip, in einer kurzen Geschichte spätmittelalterliche Koch-, Back-, Brat-, Bewirtungs- und Marktmomente zu vergegenwärtigen und anschließend mit passenden Rezepten zu ‚garnieren‘, strukturiert den Hauptteil des Bandes. Die einzelnen Abschnitte nehmen unter andrem die Bestimmungen zur Fastenzeit (Fischgerichte, Grütze, Teigtaschen) in den Blick, beschreiben die Säuerung, Gärung und Lagerung von Getränken, Gemüse, Obst und Käse und bieten einen kleinen Kosmos an Suppen. In die späteren Szenen werden belegte wie fiktive biographische Details aus Philipp Melanchthons und Martin Luthers Leben eingeflochten. So sind Georg Schwartzerdt und seine Frau Barbara Reuter, die Eltern des späteren Praeceptors Germaniae, Protagonisten in dem Abschnitt, in dem es um Gesundheitskost geht. Barbara pflegte nämlich ihren sterbenskrank aus dem Landshuter Erbfolgekrieg heimgekehrten Gatten vier Jahre lang mittels eines humoraltherapeutischen Ernährungsschemas. Im nächsten Kapitel erinnert sich Melanchthon trotz seiner Vorliebe für eine sparsame Lebensweise an die schwäbische Heimatküche und den köstlichen Geschmack wohlzubereiteter Wurst-, Schmalz- und Rauchwaren. In Abschnitt XI ist der Humanist aus Süddeutschland in Wittenberg angelangt, wo üppige Holunderbüsche blühen. Folglich werden zwei Dutzend Zubereitungen mit dem ‚Apothekengewächs‘ vorgestellt. Dann erfolgt der Schwenk zu Katharina von Bora und die Würdigung ihres Geschicks, „die eigene Familie, die im Haushalt logierenden Gelehrten und Studenten, Mägde, Knechte und Gesinde, so an die 50 Personen […] bei jeder Mahlzeit zu verköstigen“; folglich wird konsequent Hausfrauenkost aufgezählt. Abschließend tafeln Martin und Katharina anlässlich ihrer Hochzeit, wodurch sich die Gelegenheit ergibt, einem Festmahl beizuwohnen.

Leo Vogts Essensgeschichte ist unterhaltsam, instruktiv und konzis. An zwei Stellen mag man fragen, ob nicht etwas dick aufgetragen wird: etwa wenn die blödsinnige Anekdote von den Nachtigallenzungen für bare Münze verkauft wird und wenn es am Anfang heißt, „die Beschreibung der Nahrungsmittel der Hildegard von Bingen zähle auf, mit welchen Zutaten der Tisch anno 1500 gedeckt war“ – Hildegard von Bingen lebte im 12. Jahrhundert und in 300 Jahren mag sich doch einiges verändert haben. Das sind aber Kleinigkeiten. Der reich bebilderte Band mit der stupenden Zubereitungs- und Gerichtevielfalt ist ein Appetitanreger, eine Hommage an Zeiten, in denen weder uniformes Fast-Food noch stilisierte Bionahrung den Speiseplan dominierte, er ist ein Plädoyer für die Wiederentdeckung einer reichen Naturkost, wie sie der ‚gemeine Mann‘ seinerzeit zu nutzen verstand, und er erinnert daran, dass die Zubereitung und der Verzehr von Essen besonnen absolviert werden sollten: „Es gibt keine Uhr; das Auge, die Hände und das Gefühl bestimmen den Ablauf in der Backstube. Gute Backwaren brauchen ihre Zeit. Gut Ding will Weile haben, und Weile hatte man.“

Der kulinarische Streifzug gibt nicht zuletzt Einblicke in eine Lebenswirklichkeit der beiden Reformationsmatadore diesseits religiöser Agitation und gelehrter Dispute. Allen Lesern gesegnete und abwechslungsreiche Mahlzeiten, gerade heute!

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Leo Vogt: Das Luther-Melanchthon-Kochbuch. Kochen & Backen zu Zeiten der Reformation.
128 Rezepte.
Info Verlag, Karlsruhe 2015.
191 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783881908429

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