Die Angst in uns selbst

Über das Unheimliche: Psychoästhetik im Angesicht der Krise

Von Florian LehmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Lehmann

Dear madam, do you hear nothing? – This castle is certainly haunted! – Peace! said Matilda, and listen! I did think I heard a voice – but it must be fancy; your terrors I suppose have infected me.[1]

Horace Walpoles „The Castle of Otranto“ (1764) erzählt von einem Haus in Angst. Der Plot um den machthungrigen Schlossherren Manfred, der die junge Isabella, Verlobte seines von einem seltsam-monströsen Helm erschlagenen Sohnes Conrad, zwangsehelichen will, und deshalb seine Ehefrau verlässt (die ja einen nutzlosen, weil toten Erben zur Welt gebracht hat) und schließlich die eigene Tochter ersticht (aufgrund einer Verwechselung), erscheint in dieser kurzen Zusammenfassung eher bizarr als unheimlich. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Erzähler im Kern der Geschichte das Schloss als einen traumatischen Ort häuslicher Gewalt inszeniert, unter der vor allem Manfreds Ehefrau und Tochter leiden. Als Matilda sich bei ihrer Dienerin über die Härte des Vaters beschwert, antwortet diese, Matildas Mutter wisse sicherlich „that a bad husband is better than no husband“.[2]

Walpoles gothic novel ist nicht nur ein Text über eine Krise des Patriarchats – das ohne männlichen Erben dasteht und im Versuch, diesen Makel zu beseitigen, scheitert –, sondern auch über das Kontagiöse der Angst. Das obige Zitat belegt deutlich eine Ansteckungsgefahr durch selbige. Manfreds Angst vor der Entmännlichung, resultierend aus der Gefahr, die Erblinie könne mit ihm enden, infiziert das Schloss und seine Bewohner. Angst wird zum Inkubator des Unheimlichen und verwandelt Schloss Otranto in einen unheimlichen Ort, dessen Setting (im Nachhinein) eine vulgäre Deutung im Geiste der Freud’schen Psychoanalyse geradezu aufdrängt: unterirdische Kavernen und Labyrinthe, ein gigantisches Schwert, ein geheimnisvoller Riesenhelm, Doppelgängerfiguren und Inzest-Motivik. Schlussendlich gehen Manfred und seine Frau in einen christlichen Konvent, während beide Kinder tot sind. Manfreds ‚Politik der Angst‘ ist gescheitert, die Geschichte nimmt ein halbwegs versöhnliches Ende.

Was aber ist ‚das Unheimliche‘ eigentlich? Als Phänomen entsteht es im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung eines bürgerlich-privaten Erlebnisraums. Dieser Raum des Eigenen generiert ein Refugium der Heimlichkeit, das insbesondere im familiären Bereich kulturgeschichtliche Relevanz entfaltet. Die frühe englische gothic fiction zeugt von der horriblen Anfälligkeit jener Privatheit im Literarischen wie das obige Beispiel zeigt. Der optimistische Entwurf der Aufklärung vom Menschen als einem vernünftigen, moralischen und sittlichen Wesen verdrängt das Irrationale, Triebhafte und Wahnsinnige, das schließlich als Schreckhaftes und zugleich Bekanntes den Ort der Vertrautheit heimsucht. Das Phänomen des Unheimlichen fungiert entsprechend als ästhetischer Katalysator des von der Vernunftphilosophie Verdrängten. Es steht somit auch selbst im Modus der Aufklärung, indem es jenes vernünftige Subjekt heimsucht und an das Unbezwungene, das Unverstandene und Gespenstische gemahnt. Das Unheimliche ist ein Gegenlager innerhalb des Aufklärungsdiskurses und dient nichtsdestoweniger einem aufklärerischen Zweck. In diesem Sinne konstatiert Terry Castle: „Metaphorically speaking, we notice, the Freudian uncanny is a function of enlightenment: it is that which confronts us, paradoxically, after a certain light has been cast.“[3]

In Sigmund Freuds vielzitiertem Aufsatz zum Unheimlichen, auf den sich die Literaturwissenschaftlerin Castle bezieht, heißt es, dieses sei „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“[4]. Dass Freud das Unheimliche somit im Bereich des Eigenen verortet und psychoanalytisch versteht, sichert seinem Text bis heute eine enorme Aufmerksamkeit. Die Genialität liegt sicherlich in der Anbindung des Unheimlichen an den Verdrängungskomplex begründet, gewissermaßen der ‚Markenkern‘ des Texts. Und obwohl Freud mitnichten der Einzige ist, der versucht, den Begriff ‚unheimlich‘ zu definieren oder zu konzeptualisieren, so ist sein Ansatz zweifellos der wirkmächtigste. Spricht man heutzutage vom Unheimlichen, so wird überwiegend und fortwährend auf eine Freud’sche Konzeption des Begriffs referiert – wenn auch nicht mehr mit all seinen psychoanalytischen Implikationen. Seit Beginn der 1990er-Jahre ist das Unheimliche in den Geistes- und Kulturwissenschaften, insbesondere aber in den Cultural Studies angloamerikanischer Prägung, zu einem virulenten Begriff avanciert, der von der Forschung in divergierender und variierender Weise funktionalisiert wird. In seinem einflussreichen Aufsatz „The Uncanny Nineties“ von 1995 konstatiert Martin Jay, dass das Unheimliche „one of the most supercharged words in our current critical vocabular“[5] sei. Neben Freud haben drei weitere Autoren aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts das theoretische Fundament des Unheimlichen gelegt: Ernst Jentsch, Rudolf Otto und Martin Heidegger. Bei keinem von ihnen sind die Begriffe ‚Unheimliches‘ oder ‚Unheimlichkeit‘ für das – im Falle Jentschs ohnehin schmale – Gesamtwerk repräsentativ. Damit lässt sich vielleicht auch das zunächst geringe Interesse auf der Rezipientenseite erklären: Das Unheimliche wurde bis in die 1970er-Jahre innerhalb des akademischen Diskurses bis auf sehr wenige Ausnahmen überhaupt nicht wahrgenommen. Erst einigen poststrukturalistischen Autorinnen und Autoren, zumeist einem dekonstruktivistischen Lektüreverfahren verpflichtet, verdanken wir Studien, die den Blick auf das Unheimliche bis heute prägen und die eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Konzept eingeleitet haben.

Das Haus ist zweifellos der paradigmatische Ort des Unheimlichen – Literatur, Film und Kunst sind reich an Beispielen heimgesuchter Häuser. Doch das Unheimliche scheint im 20. Jahrhundert über diese heimatlichen Orte hinaus zu ‚expandieren‘. Der Architekturtheoretiker Anthony Vidler hat dazu festgestellt: „The site of the uncanny was now [since World War I] no longer confined to the house or the city, but more properly extended to the no man’s land between the trenches, or the fields of ruins left after bombardment.“[6] Nicht grundlos hatte daher auch die Psychoanalyse ihren internationalen Durchbruch als Wissenschaft im Anschluss an den ersten Weltkrieg. Die Kriegsneurosen werden für die Analytiker nicht minder bedeutsam, als die bisher zu behandelnden Friedensneurosen. „Das Unheimliche“ ist deshalb auch ein Text über den Krieg. Das Phänomen scheint sich in den Verwüstungen des Krieges gleichsam in Form massenhafter Traumata zu manifestieren. Mit seinem Aufsatz macht Freud diese Funktionsweise des Unheimlichen als Schreckhaftes nachvollziehbar. Der Text „Das Unheimliche“ ist als Detektion eines kulturell Unbewussten, letztlich unheimlichen Phänomens zu begreifen, das schon längst in der Luft lag. Freuds Essay führt nun dazu, dass das Unheimliche sich selbst nicht mehr unheimlich ist. Es verliert seine phänomenale Präsenz, indem er die Funktionsweisen des Phänomens nachvollziehbar macht. Die Unheimlichkeit des Unheimlichen wird ersetzt durch einen psychoanalytischen Kontext. Das Unheimliche wird zu einem psycho-ästhetischen Konzept – freilich zu den Prämissen, mit denen Freud es versehen hat und in Abwehr zu Ernst Jentsch, auf dessen einige Jahre älteren Text zum Unheimlichen Freud sich mit seiner Arbeit ablehnend bezieht.

In der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Tradition wird das Unheimliche mit unendlicher Semiose, Ambiguität, mit Dekonstruktion oder sogar dem Literarischen per se identifiziert. Insbesondere in der gegenwärtig inflationären Gebrauchsweise wird seine Verwendung mittlerweile auch als wissenschaftliche Verherrlichung kritisiert. Das Unheimliche ist gewissermaßen Opfer seines eigenen Erfolgs, ähnlich etwa Susan Sontags ästhetischem Camp-Begriff. Insofern stellt sich die berechtigte und dringende Frage, ob die Produktivität des Konzepts für eine heutige kulturwissenschaftliche Praxis unter dieser Inflation womöglich leidet. Die oft behauptete Ambiguität des Unheimlichen wiederum ist dabei freilich im Text selbst schon angelegt. So zitiert Freud den Autor Karl Ferdinand Gutzkow: „Wir nennen das unheimlich, Sie nennenʼs heimlich.“[7] Das macht die Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen verlockend und strapaziös zugleich.

Insbesondere innerhalb der Postcolonial Studies hat sich das Unheimliche als viel beachtetes und nützliches Konzept erwiesen. Dort fungiert es als eine Erschütterung der Fundamentaldichotomie des Eigenen und Anderen und gemahnt, dass das, wovor wir Angst haben, gerade nicht im Anderen zu suchen ist, sondern in uns selbst. So betrachtet indiziert das Unheimliche stets Krisen des heimgesuchten Subjekts. Julia Kristeva schreibt dazu in „Fremde sind wir uns selbst“:„In der faszinierten Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, steckt ein Moment jenes Unheimlichen […]. Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewußtes – dieses ‚Uneigene‘ unseres nicht möglichen ‚Eigenen‘.“[8] Wenn das Fremde jedoch in uns ist, wie Kristeva behauptet, so werden Eigenes und Anderes genauso wie Heimat und Fremde zu fiktiven Oppositionen, die hochgradig volatil sind, ähnlich einer kritischen Masse. Ihre abhängige Abgrenzung muss ständig aufs Neue produziert werden. So stellt das Unheimliche für Homi Bhabha eine „paradicmatic colonial and post-colonial condition“[9] dar. Bezeichnenderweise wählt Bhabha häufiger die englische Übersetzung unhomely statt uncanny und betont so besonders die topografisch-topologische Dimension des Freud’schen Unheimlichen. Versteht man Heimat als Ausdrucksform des Eigenen und als (oftmals positiv besetzten) Envers des Unheimlichen, so gilt auch hier, dass Heimat auf Krisen reagiert und durch sie als Strategie produziert wird. Das Unheimliche nimmt hier genau jenen Platz ein, der der blinde Fleck dieses Heimat-Dispositivs ist, nämlich den Umstand, dass wir schon immer dem Verlust des Eigenen ausgesetzt sind, auch ohne die konkrete Präsenz ‚des‘ Fremden.

Bhabha hat vor allem darauf verwiesen, dass gerade migrierende Menschen, insbesondere solche, die zur Migration gezwungen sind (‚Flüchtlinge‘, Exilanten, Menschen in der Diaspora), unheimliche Subjekte par excellence sind. In der Kolonialgeschichte zeigt sich, dass insbesondere die Kolonisierenden aufgrund ihrer jeweiligen Machtposition rasch Fremde in Heimat transformieren konnten. Die Figur des Robinson Crusoe als moderner Odysseus[10] ist beispielhaft dafür. Von der Unheimlichkeit, die hier entsteht, zeugt in vielen Literaturen und Filmen die Heimsuchung durch die vergangene (und begangene) Gewaltgeschichte – man denke nur an den populären Topos des Indianerfriedhofs in zahlreichen US-amerikanischen Horrorfilmen, dessen Gespenster die Nachkommen der weißen Siedler ängstigen. Umgekehrt und aktueller denn je sind migrierende Menschen, die sich aufgrund von Krieg, Armut oder Umweltzerstörung in die Länder der ehemaligen Kolonialisten bewegen, unheimliche Gespenster unserer Zeit. So heißt es bei Bhabha: „In that displacement, the borders between home and world become confused; and, uncannily, the private and the public become part of each other, forcing upon us a vision that is as divided as it is disorienting.“[11]

Unheimliche Subjekte bringen unheimliche Orte hervor. Der flächenmäßig größte unheimliche Ort unserer Zeit ist längst das Mittelmeer, das zum nassen Grab tausender Menschen geworden ist, deren Körper wöchentlich an die Küsten geschwemmt werden. So erscheint in Adalbert Stifters Erzählung „Abdias“ das Mittelmeer als „Ungeheuer“[12]. Unheimliche und monströse Orte entstanden schon immer im liminalen Bereich des Heimischen. Es sind Orte wie der Jungle de Calais, dem erst im Januar 2016 durch zwei Bilder des britischen Künstlers Banksy neuerliche mediale Aufmerksamkeit zuteilwurde.[13] Das nahe der französischen Hafenstadt gelegene illegale, doch von den Behörden tolerierte Flüchtlingslager hat in der Berichterstattung den Namen ‚Dschungel‘ erhalten. Die Semantik lässt den Ort exotisch und archaisch erscheinen, sie verspricht Wildheit und Gefahr und keine heimische Urwaldgeborgenheit. Der Dschungel ist kein Zuhause, er beherbergt jedoch; er ist weder ein privater noch öffentlicher Raum; er ist nur temporär, doch von erstaunlicher Dauer; seine Lage ist nicht präzise, sondern vage; er wird geräumt und entsteht von Neuem; er transformiert das Kommensurable, den Abfall der Stadt, in das Inkommensurable, einen ‚Urwald‘ in Westeuropa.

Die Generierung unheimlicher Subjekte oder Orte geschieht primär durch diejenigen, die Angst zum Noema des politischen Handelns machen. In der ‚Flüchtlingskrise‘ ist das Unheimliche die Psychoästhetik der Stunde, denn es vermag als Konzept nachvollziehbar zu machen, in welchem Maß Heimat und Fremde politisch instrumentalisierbare Machtkategorien sind. „Man kann diese Krise ein Geschenk für uns nennen. Sie war sehr hilfreich.“[14], sagt etwa der Publizist und AfD-Politiker Alexander Gauland dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Es gibt ein Interesse, die infektiöse Angst zu schüren, die die angenommene Ohnmacht der Krisenerfahrung begünstigt: Erst da, wo Angst ansteckend ist, transformieren sich intersubjektiv alltägliche in unheimliche Orte, die verdrängt und aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden, bis sie uns heimsuchen.

Anmerkungen:

[1] Horace Walpole: The Castle of Otranto. Ed. by W. S. Lewis. With a new Introduction and Notes by E. J. Clery. Oxford/New York: Oxford University Press 1996, S. 42.

[2] Ebd., S. 40.

[3] Terry Castle: The Female Thermometer. Eighteenth-Century Culture and the Invention of the Uncanny. Oxford 1995, S. 7. Herv. i. O.

[4] Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Studienausgabe in zehn Bänden mit einem Ergänzungsband. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. 4: Psychologische Schriften. Frankfurt a. M. 1994, S. 243–274, hier S. 244.

[5] Martin Jay: „The Uncanny Nineties“. In: Salmagundi 108 (1995), S. 20–29, hier S. 20.

[6] Anthony Vidler: The Architectural Uncanny. Essays in the Modern Unhomely. Cambridge/London 1992, S. 7.

[7] Freud, Das Unheimliche, S. 248.

[8] Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Aus dem Französischen von Xenia Rajewsky. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 208f.

[9] Homi Bhabha: The Location of Culture. New York: Routledge 1994, S. 9.

[10] Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 69.

[11] Bhabha: The Location of Culture, S. 13.

[12] Adalbert Stifter: Abdias. Erzählung. Stuttgart: Reclam 1970, S. 59.

[13] Siehe URL: http://www.theguardian.com/artanddesign/2016/jan/24/banksy-uses-new-artwork-to-criticise-use-of-teargas-in-calais-refugee-camp (Aufruf 31. Januar 2016).

[14] Melanie Amann u.a.: Aufstand der Ängstlichen. In: Der Spiegel, H. 51 (2015), S. 19–27, hier S. 24 [URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-140390005.html (Aufruf am 31. Januar 2016)].

Einzelne Abschnitte dieses Essays basieren auf meiner Einführung zum Sammelband „Ordnungen des Unheimlichen“ (siehe: Florian Lehmann: Einführung. Das Unheimliche als Phänomen und Konzept. In: Ordnungen des Unheimlichen. Kultur – Literatur – Medien. Hrsg. v. Florian Lehmann. Königshausen & Neumann 2016, S. 9–26).