Neues aus dem Reich der „Melodien“
In „Alles ist gut“ bastelt Helmut Krausser ein spannendes, intelligentes intertextuelles Geflecht und schreibt gleichzeitig seinen berühmtesten Roman weiter
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHelmut Krausser galt einst als einer der hoffnungsvollsten Schriftsteller deutscher Sprache; ein nahezu manischer, etwas größenwahnsinniger, besessener Vielschreiber, zudem ein Mann, der, so schien es, mitten im Leben stand, und dieses aufregende Künstlerleben bereit war, mit seinen Lesern zu teilen. Bereits in jungen Jahren hatte er ein beeindruckendes Werk vorgelegt: die frühe Hagen Trinker-Trilogie, das überbordende historische Epos Melodien, ein mysteriöses, neoromantisches Buch namens Thanatos und dazu zahlreiche wunderbare Kurzgeschichten. Das größte, wunderbarste an diesem Krausser war jedoch sein Tagebuch-Projekt: Jedes Jahr erschien im kleinen Belleville-Verlag von Michael Farin (nachgedruckt wurden die Bände später von seinem damaligen Stammverlag Rowohlt) ein schön gestalteter Band, der einen Monat des Jahres abdeckte; die Reihe begann mit dem Mai des Jahres 1992, gefolgt von Juni 1993, Juli 1994 … – bis ein Jahreszyklus vervollständigt war. Diese Tagebücher – und somit auch ihr Autor – wurden vielen Menschen zu ständigen Wegbegleitern. Man wähnte sich Krausser nahe, glaubte, sein Freund zu sein, an seinem Leben unmittelbar teilhaben zu können. Gleichzeitig sorgten das abrupte Ende und das zwölfmonatige Schweigen wieder für die nötige Distanz.
Doch leider versagten viele Kritiker Krausser die Anerkennung, die ihm aufgrund seines Frühwerks eigentlich hätte zuteilwerden müssen. Niemand erkannte in ihm das literarische Genie, das er tatsächlich war – und als das er sich auch selbst zu sehen vorgab. Vielleicht lag das auch daran, dass sein präsentester Roman die 1997 erschienene Faust-Geschichte Der große Bagarozy war, sein bislang schwächstes, aber in der Folge vom Autor vehement verteidigtes Buch. Eine völlig misslungene Verfilmung tat ihr Übriges. Als Krausser dann 2003 sein Meisterwerk UC veröffentlichte, einer der besten Romane, die in den vergangenen zwanzig Jahren in deutscher Sprache erschienen sind, wollte kaum noch jemand folgen. Das Buch war ebenso komplex wie unterhaltsam, und irgendwie wurde es, nicht zuletzt aufgrund seines unorthodoxen Endes, kollektiv missverstanden.
Es mag eine von der Lektüre der Tagebücher unterstützte Spekulation sein, aber für den Autor mussten spätestens dann finanziell schwierige Zeiten angebrochen sein. Zumindest ist ein Bruch in seinem Werk zu erkennen. Er begann, einfacher, kinematographischer zu schreiben, die Bücher waren nicht mehr originell, manchmal waren sie sogar ärgerlich. Fast schien es, seine immer größer werdende Leidenschaft für die Oper – mittlerweile komponiert er auch selbst – lasse das Schreiben von Romanen nur noch zur lästigen Pflichtübung werden.
Und plötzlich kam dem Autor eine unorthodoxe Idee: Warum nicht – zumindest indirekt – die Geschichte von Melodien weiterschreiben? Wahrscheinlich ist Krausser der Einfall gekommen, als er 2014 eine überarbeitete Version seines ursprünglich zwanzig Jahre vorher erschienenen Epos veröffentlicht hat (auch dies eher unorthodox, nebenbei bemerkt). Und es war eine gute Idee, denn es ist sein bester Roman seit UC.
Einem erfolglosen Komponisten werden durch mehrere Zufälle Notenblätter zugespielt, auf denen eine mysteriöse Komposition festgehalten ist. Er baut Melodien daraus in eines seiner Werke ein, und scheinbar wohnt diesen eine manipulative Kraft inne, die sogar zum Tod einiger Hörer führt. Schließlich erscheint eine seltsame Gestalt, die mehr über das Geheimnis der Kompositionen zu wissen scheint. Schnell wird dem Krausser-Kenner klar, dass es sich bei den mysteriösen Kompositionen um jene bereits aus dem gleichnamigen Roman bekannten ‚Melodien’ handelt, von denen es heißt, sie üben einen manipulativen Einfluss auf ihre Hörer aus. Eine Metapher auf die Macht großer Kunst, natürlich, aber gleichzeitig auch eine höchst reale Mystery-Geschichte eben, und genau das macht die Faszination dieses Romans aus.
Zu viel soll an dieser Stelle nicht verraten werden, da Alles ist gut nicht zuletzt von seinem Spannungsaufbau lebt. Der Roman zeichnet sich jedoch auch dadurch aus, dass der in der Nacherzählung düster und geheimnisvoll wirkende Plot stets ironisch gebrochen erscheint. Krausser zelebriert regelrecht jenes postmoderne Verwirrspiel um Autorschaft und Originalitätsduktus, das bereits den Schluss von UC rätselhaft, ironisch und überraschend zugleich werden ließ. Das Brillante an diesem Buch ist, wie es dem Autor gelingt, das eigene Werk gleichzeitig zu fiktionalisieren und zu überhöhen, es zum Bestandteil eines intertextuellen Vexierspiels zu machen – und wie er dabei gleichzeitig die Autorität der Autorstimme untergräbt, indem er sie als Absolut deklariert. Interessanterweise gelingt Krausser dies – und hier liegt der Unterschied zu den beiden Referenzromanen Melodien und UC – ohne den epischen Duktus des ersten oder die erzählerische Komplexität des zweiten. Alles ist gut ist ein fast unverschämt simpel erzähltes Buch, das aufgrund seiner präzisen, aber einfachen Sprache die Komplexität des Inhalts immer wieder konterkariert. Das ist ein schmaler Grad und wird jene Kritiker auf den Plan rufen, die Ebenen der Komposition, der Sprache und des Plots nicht zu unterscheiden imstande sind und gerne auch Schriftsteller wie Karl Ove Knausgård für die Eingängigkeit seiner Sprache rügen. Aber es wäre schade, wenn man solchen Stimmen zu viel Gehör schenkt.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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