Eine Studienausgabe für Mediävisten, Neugermanisten und Literaturdidaktiker

Zur Neuauflage von Armin Schulz‘ „Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive“

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem frühen Tod Armin Schulz‘ (2010) gaben Freunde und Kollegen seine weithin abgeschlossene „Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive“ heraus. Das Werk basiert auf zwei Münchener Vorlesungen und wurde bereits von Schulz für den Druck vorbereitet. Die Herausgeber übernahmen daher vor allem redaktionelle Aufgaben und betonen, dass „der Leser wirklich Armin Schulz‘ Buch“ in den Händen hält.

Nach einem kurzen Vorwort beschäftigt sich Schulz mit den Grundlagen des Erzählens und den Voraussetzungen für das Verstehen mittelalterlicher Texte. In diesem Zusammenhang geht er ein auf die Besonderheiten mittelalterlicher Figurenkonstruktion sowie die Handlungsprinzipien und die kulturellen Bedingungen mittelalterlicher Literatur mit Bezug auf die feudale Identität. Anschließend erörtert er für die „vier Hauptgattungen“ höfischer Roman, Märe, Legende und Heldenepos das immer wiederkehrende Prinzip des Agons (des Widerstreits) sowie die für den modernen Leser ungewöhnliche Widersprüchlichkeit der Handlungen, der Darstellungen der Figuren und der Gestaltung der Texte. Sehr ausführlich erläutert Schulz die gängigsten mittelalterlichen Erzählmuster (Brautwerbungsschema, ‚gestörte Mahrtenehe‘, Artus-, Minne- und Aventiureroman). Mit einer Darlegung und Analyse der mittelalterlichen Raum- und Zeitgestaltung, einer Diskussion der Möglichkeiten, Besonderheiten und Überschreitungen der Kohärenz in den Texten sowie Ausführungen zum mittelalterlichen Erzähler und zur Erzählperspektive endet das Buch.

Schulz greift die grundlegenden Kategorien (Figuren, kulturelle Kontexte, Erzählmuster, Raum, Zeit, Erzähler) für die Ausführung seiner Erzähltheorie auf und überführt sie konsequent in eine mediävistische Perspektive. Auf der Basis der mediävistischen Forschung greift er die Erkenntnisse moderner Erzähltheorien auf, grenzt sich zugleich von ihnen ab und bringt so die Besonderheiten und Eigenheiten der mittelalterlichen Literatur zutage. Dabei stellt Schulz Erzähltheorie, Forschungsgeschichte und Forschungsstand ausgewogen und präzise dar und verknüpft die Ergebnisse geschickt mit ausgewählten Beispielen.

In der Summe erweist sich die „Erzähltheorie“ als ein theoretisch fundiertes und kenntnisreiches Werk, mit dem es Schulz vorzüglich gelingt, sein Vorhaben umzusetzen, eine „Einführung in die Spezifika mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählens“ zu schreiben. Dabei versteht es Schulz, seine didaktische Intention durch den klugen Aufbau seiner Kapitel, die verständliche Darstellung der Theorie und zahlreiche Erklärungen sowie die Übersetzung lateinischer und mittelhochdeutscher Zitate umzusetzen.

In den früheren Rezensionen wurde das Buch hoch gelobt. Allerdings beklagte man den Preis von 119,95 Euro, der eine wünschenswerte Verbreitung des Buches verhindere, die über den Kreis der wenigen Experten mittelalterlicher Literatur und der wissenschaftlichen Bibliotheken hinausgehe. Dabei war das Werk von Schulz als Einführungswerk für seine Studenten konzipiert worden. Nun erscheint die „Erzähltheorie“ als Studienausgabe zu einem bedeutend günstigeren Preis von 29,95 Euro. Damit erweitert sich der potentielle Leserkreis um ein Vielfaches. Doch für wen ist die „Erzähltheorie“ von Interesse?

In erster Linie richtet sich das Buch an Studierende und Forschende der Mediävistik, die eine kompetente Einführung und Darstellung der Erzähltheorie zur deutschsprachigen mittelalterlichen Literatur suchen. Dabei setzt Schulz einen Leser voraus, der bereits über basales Wissen zur mittelalterlichen Literatur und Gesellschaft verfügt. Schulz schreibt nicht für Studenten der ersten Semester. Als Adressaten kommen daher Studenten in Frage, die für ihre mediävistischen Bachelor- oder Masterarbeiten eine kundige Untersuchung zur Erzähltheorie sowie Anregungen für ihre eigenen Studien beziehungsweise Forschungen suchen. Sie profitieren dabei von der Form der thematischen Auseinandersetzung Schulz‘, die sich in ein kritisches Referat der Forschung und einer Explikation der Ergebnisse an konkreten Textbeispielen gliedert. Die Studenten erhalten so fruchtbare Impulse für ihre eigenen Interpretationen.

Des Weiteren dürfte die „Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive“ auch von Neugermanisten mit großem Interesse und Gewinn gelesen werden. Die Neugermanisten erhalten mit dem Werk einen profunden Überblick, der es ihnen gestattet, mittelalterliche und moderne Erzähltexte zu vergleichen sowie die Besonderheiten und Eigenheiten (Alterität) mittelalterlichen Erzählens zu erfassen und zu verstehen. Ihnen wird mit der „Erzähltheorie“ ein Werkzeug in die Hand gegeben, mit dem sie nach Reflexen mittelalterlichen Erzählens in der modernen Literatur fahnden und so das Mittelalterliche im Modernen aufzuspüren können.

Schließlich können Deutschlehrer und Literaturdidaktiker das Buch für die Konzeption von Unterrichtsreihen zur deutschen mittelalterlichen Literatur nutzen, die der mittelalterlichen Erzählweise gerecht werden will und ihre Alterität erschließen und erklären möchte. Aus Schulz‘ „Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive“ ließe sich eine noch zu schreibende „Literaturdidaktik in mediävistischer Perspektive“ generieren, die freilich noch um andere dezidiert literaturdidaktische Aspekte zu erweitern wäre.

Angesichts dieser Möglichkeiten, die weit über das Spektrum mediävistischer Forschung hinausgehen, ist die günstige Neuauflage des Werks zu begrüßen. Es bleibt zu hoffen, dass die „Erzähltheorie“ nicht nur von den Mediävisten, sondern auch von Neugermanisten und Literaturdidaktikern mit Gewinn gelesen, studiert und für neue Forschungen genutzt wird.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive.
2. Auflage. Herausgegeben von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Dunkel.
De Gruyter, Berlin 2015.
431 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783110400144

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