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Frank Möller portraitiert den Verleger Joseph Caspar Witsch und den literarischen Betrieb in der frühen Bundesrepublik

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man müsse, sagt Frank Möller einleitend, nicht den ersten Band seiner Geschichte des Verlegers Johann Caspar Witsch und des Verlags Kiepenheuer & Witsch studieren, um in den zweiten einzusteigen. Aber nützlich wäre es schon, ihn noch einmal zu betrachten und sich die ersten Stationen einer atemberaubenden Karriere ins Gedächtnis zu rufen. Witsch, Jahrgang 1906, war gebürtiger Kölner, ein jugendbewegter Katholik, während des Studiums engagiert bei der Sozialistischen Studentenschaft und im Umfeld der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, einer Abspaltung linker Sozialdemokraten von der Mutterpartei SPD. Mit einer Arbeit über den „Begriff ‚Stand‘ in der Gesellschafts- und Staatsphilosophie Fichtes“ wurde er promoviert, 1934 unternahm er in der ehemals liberalen „Kölnischen Zeitung“ den Versuch, die Soziologie, sein Studienfach, den neuen, den nationalsozialistischen Machthabern schmackhaft zu machen. Zwischendurch publizierte er hier und da kleinere Artikel, im Oktober 1933 war er – wohl um seiner beruflichen Zukunft willen – in die SA eingetreten: ein Zeichen, mit dem er seine Bereitschaft bekundete, sich mit dem Regime zu arrangieren. 

1935 ging er als Leiter der Volksbibliothek nach Stralsund, ein kurzes Zwischenspiel, denn schon im Jahr darauf wurde er nach Jena an die Spitze der Thüringischen „Landesstelle für volkstümliches Büchereiwesen“ berufen. Hier nun entfaltete er sein ganzes bibliothekarisches Können, reinigte die Bibliotheken von liberalem und sozialistischem Schrifttum, fungierte als Herausgeber einschlägiger Fachorgane, darunter 1942 der Zeitschrift „Buch im Volk“. Er war vermutlich kein überzeugter Nazi, eher ein Opportunist, der sich freilich für Anpassungsgesten in Schrift und Tat nicht zu schade war. 1937 jedenfalls entschied er sich für den Eintritt in die NSDAP, was er nach 1945 – wie manch anderer aus dem literarischen Betrieb – vehement bestritt. Das Kriegsende erlebte er als Soldat, kehrte zurück nach Jena in sein angestammtes Tätigkeitsfeld, nun damit beschäftigt, die Büchereien von nationalsozialistischen Publikationen zu befreien, und schloß sich der SPD, nach deren Zwangsvereinigung mit der KPD der SED an. Zusammen mit seinem Freund, dem Philosophen und Schriftsteller Max Bense stellte er 1946 ein Buch mit Texten von Autoren zusammen, die von den Nationalsozialisten verfemt worden waren, ein „Almanach der Unvergessenen“, eine Art Wiedergutmachung, zugleich eine Eintrittskarte in die postfaschistische Welt im Werden. Darin waren über Ricarda Huch Sätze zu lesen, die sinngemäß in den westlichen Besatzungszonen Leute wie Ernst Glaeser und Frank Thiess dem Emigranten Thomas Mann in selbstentschuldender Absicht entgegenhielten: „Sie ist nicht in ihre zweite Heimat, die Schweiz gegangen, sie hat uns nicht allein gelassen. Ihr wurde infolgedessen nichts geschenkt, wie uns allen nichts geschenkt wurde.“

Schwierigkeiten und Konflikte mit den Machthabern in der Sowjetischen Besatzungszone ließen nicht lange auf sich warten. Im März 1948 wechselte er mit seiner Familie in den Westen, ließ sich zunächst in Hagen nieder, dann in Köln und begann, den Gustav Kiepenheuer Verlag, in dem sich während der 1920er-Jahre fast die gesamte, 1933 ins Exil getriebene literarische Moderne versammelt hatte, weiter zu führen und wiederaufzubauen, was auf Vereinbarungen mit dem mittlerweile verstorbenen Eigentümer Gustav Kiepenheuer fußte. Aus den Kämpfen mit dessen Witwe um das Erbe ging Witsch, der in diesen Dingen mit robuster Hemdsärmeligkeit operierte, als Sieger hervor, machte 1951 aus Kiepenheuer den Verlag Kiepenheuer & Witsch: in der sich neu etablierenden Verlagslandschaft der jungen Bundesrepublik ein Newcomer, der sich dank der rastlosen Energie des begnadeten Kommunikators Witsch rasch etablierte und zu einer festen Größe im westdeutschen Literaturbetrieb heranwuchs. Die Wege dahin und die Probleme, die dabei zu meistern waren, rekonstruiert Möller im ersten Band seiner Geschichte (Das Buch Witsch, Köln 2014), die von aufschlußreichen Details, spannenden Personenkonstellationen, erhellenden Episoden und klug wägenden Analysen lebt.

Den zweiten – im Vergleich zum ersten nicht ganz so komplexen, indes ebenso umfassend recherchierten und informativen – Band schmückt im Titel eine Metapher: „Dem Glücksrad in die Speichen greifen“. Das zielt auf die Fähigkeit des Verlegers Witsch, den Fährnissen seines Gewerbes zu trotzen, Autoren verschiedenster Provenienz zu rekrutieren, das Programm zu diversifizieren und geschäftliche Strategien zu entwickeln, die das Überleben des seit 1953 jahrelang in Köln-Marienburg, Rondorfer Straße 5, residierenden Unternehmens sicherten. Möller hat diesem Teil der Geschichte drei Zitate vorangestellt, die aus jeweils unterschiedlicher Perspektive den Protagonisten beleuchten. Das eine stammt von Jörg Schröder, im Verlag zeitweilig Chef der Werbe- und Presseabteilung, der Witsch auf eine Stufe mit Kurt Wolff, Ernst Rowohlt und Samuel Fischer setzt, im zweiten beklagt der Schriftsteller Manès Sperber, der Freund sei „zu früh gestorben“, weil er geglaubt habe, „alles auf einmal tun, erleben und genießen zu müssen.“ Im dritten schließlich kommt Witsch zu Wort, die Rolle des Verlegers beschreibend, womit er sich selbst meint. Dieser nämlich müsse „wie die Helden Trojas auf der Mauer stehen, seine Feinde schmähen und seine Freunde lieben“. Weiter heißt es da: „Seine Freunde trösten ihn, wenn es ihm nottut, und seine Feinde sorgen dafür, daß er im Gespräch bleibt, er und seine Bücher.“

Für wen aber und vor allem wie schlug er sich in die Bresche? Witsch hatte ein ausgeprägtes Interesse, in den Jahren des Nationalsozialismus exilierte Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland heimisch zu machen. An dieser Linie hielt er auch dann fest, wenn damit wie im Fall René Schickele kein Geld zu verdienen war. Einige Romane Joseph Roths, den „Radetzkymarsch“ etwa, brachte er zusammen mit dem Amsterdamer Verlag Allert de Lange, in dem Roth nach 1933 eine Heimstatt gefunden hatte, auf den Markt; für die Gesamtausgabe von 1956 schrieb Hermann Kesten, damals mit Walter Landauer verantwortlich für das deutschsprachige Programm bei Allert de Lange, das Vorwort. Mit Kesten gestalteten sich die Beziehungen allerdings schwierig, dessen Romane wurden zwar geprüft, aber nicht wieder aufgelegt. Ob es daran lag, daß er „kein überragender Romanautor“ gewesen sei, wie Möller urteilt, mag offen bleiben. Ganz leicht war es auch nicht mit Erich Maria Remarque, der zunächst bei Desch untergekommen war, seinen KZ-Roman „Der Funke Leben“ jedoch an Witsch gab. Gleiches galt für „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“, erschienen 1954, die Geschichte eines Soldaten auf  Fronturlaub, der inmitten von Trümmern und einer völlig aus den Fugen geratenen Gesellschaft die Frage nach Schuld und Verantwortung aufwirft: an einem Krieg, den die Deutschen „mit Sklavenlagern, Konzentrationslagern“ und „Massenmord an Zivilisten“ geführt hatten. Witsch ahnte, daß dergleichen in einer Öffentlichkeit, die sich nach dem Schlußstrich sehnte, schwer zu vermitteln sein würde. Er entschloß sich daher, seinen Autor zu Veränderungen zu drängen, ein Fall von Opportunismus, ja, von Zensur mit der Absicht, wie Möller resümiert, die Schuldfrage zu entschärfen, was Remarque durchschaute, gleichwohl hinnahm.

Insgesamt waren dem Bemühen, die aus Deutschland geflüchteten, bereits in der Weimarer Republik populären Autoren literarisch wieder einzubürgern, „enge Grenzen gesetzt“. Daß den Vertretern der ‚inneren Emigration‘, um die Witsch sich kümmerte, ähnliches widerfuhr, kann man nicht sagen, ganz ohne Probleme entwickelten sich die Dinge freilich auch hier nicht. Erich Kästner war zwar hoch willkommen, in Gemeinschaft mit den Partnern Atrium in Zürich und Cäcilie Dressler in Berlin veranstaltete man eine von Kesten eingeleitete siebenbändige Werkausgabe, aber die gegenseitige Wertschätzung kühlte sich im Laufe der Jahre merklich ab. Zu konträr waren die politischen Überzeugungen. Kästner war gegen die atomare Aufrüstung, hegte tiefe Skepsis gegen die Kultur des Beschweigens, die sich im Blick auf die NS-Vergangenheit zunehmend ausgebreitet hatte, Witsch dagegen war ebenso tief verankert in dem, was kritische Geister, den „CDU-Staat“ zu nennen sich angewöhnten; er ordnete manches seinem rigorosen Antikommunismus unter, bedachte die DDR und die dort herrschende SED mit andauerndem Zorn, was auch im Verlagsprogramm sichtbare Spuren hinterließ.

Während er sich damit von Kästner entfremdete, trat er nachdrücklich für andere Autoren ein, die 1933 ebenfalls nicht gegangen waren. Ricarda Huch zum Beispiel genoß uneingeschränkte Bewunderung. Sie habe, hatte er 1947, noch in der sowjetischen Besatzungszone, angemerkt, auf „ergreifende Weise erkennbar gemacht, welche tapfere, unmittelbar menschliche und auch geistige Aufgabe diejenigen, die in Deutschland geblieben“ seien, übernommen haben, „obwohl dieses Deutschland ihnen von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde fremder“ geworden sei. Möller sieht darin, vermutlich zu Recht, ein Stück Selbstentschuldung, „Selbstrechtfertigung des eigenen Arrangements als Landesstellenleiter und Bibliothekar mit dem NS-Staat“, ein Ausdruck von Mentalitäten und Überzeugungen, die in den Kinderjahren der Bundesrepublik von den eher konservativen Strömungen der bürgerlichen Gesellschaft zur Leitschnur erhoben worden waren. Umso bemerkenswerter, daß er den bis dahin ziemlich erfolglosen Heinrich Böll, der sich 1952 von Middelhauve trennte, für sein Haus gewinnen konnte. Trotz politisch keineswegs kongruenter Überzeugungen wurde daraus eine „erfolgreiche Zweckgemeinschaft“, beruhend auf den gemeinsamen Wurzeln im rheinischen Katholizismus, der Distanz zur Amtskirche und der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, dabei durchdrungen von der, wie Böll das 1964 nannte, Bindung an „Zeit und Zeitgenossenschaft, an das von einer Generation Erlebte, Erfahrene, Gesehene und Gehörte“.

Witsch hatte ein seismographisches Gespür für die Wandlungsprozesse, die sich auf dem Buchmarkt vollzogen. Der Vermarktung der eigenen Produktion diente die Hauszeitschrift „Die Kiepe“. Hier wie in anderen Medien, im Rundfunk wie im Fernsehen, meldete er sich regelmäßig zu Wort, ein „Mann auf allen Sendern“, der Fragen des Tages diskutierte und solche, die über den Tag hinausreichten. Kooperationen mit Buchgemeinschaften, etwa der lange Jahre unter dem Dach der Gewerkschaften operierenden „Büchergilde Gutenberg“, sicherten die Finanzierbarkeit einzelner Projekte, verschiedene Sparten deckten unterschiedliche Bedürfnisse des lesenden Publikums ab. Neben dem literarischen Programm entwickelte Dieter Wellershoff das Wissenschaftsprogramm mit der legendären gelben Reihe, den Sammelbänden der „Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek“, die versprachen, kompetent über den Stand der Dinge in einzelnen akademischen Disziplinen zu informieren. Erst der Siegeszug des Fotokopierers in den Universitäten bereite dem ein Ende. Carola Stern verantwortete das Sachbuchprogramm, in dem sich Autoren wie Arnulf Baring, Gerd Ruge oder Peter Bender tummelten. „Die literarische Bewältigung der Gegenwart“, gab Witsch in der „Kiepe“ als Maxime aus, „soll unterstützt werden durch die in unserem Verlag herausgebrachten Werke wissenschaftlicher und analytischer Art.“

Ein Letztes: Möllers Buch ist nicht nur eine solide Doppelbiografie des Verlegers Joseph Caspar Witsch und des Verlags Kiepenheuer & Witsch, sondern auch ein Schatzkästchen mit Quellen, die durch den Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln am 3. März 2009 unwiderruflich dahin sind. Bedeutende Teile des Verlagsarchivs, die der Autor noch einsehen und auswerten konnte, sind seither verloren. Er, Möller, habe sich gefragt, wie Witsch auf die Meldung reagiert hätte, daß „etwa 35.000 von ihm geschriebene und an ihn versandte Briefe unter Beton, Dreck und Wasser geschreddert“ worden sind. Er wäre wohl, lautet die Antwort, „mit Furor über die geballte Inkompetenz und Feigheit in Politik, Verwaltung und Verkehrsbetrieben der Domstadt – seiner Stadt – hergefallen. Und er hätte recht damit gehabt.“

Titelbild

Frank Möller: Dem Glücksrad in die Speichen greifen. Joseph Caspar Witsch – Seine Autoren, sein Verlagsprogramm und der Literaturbetrieb der frühen Bundesrepublik.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
605 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783462047394

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