Der Grat zwischen Hingabe und Selbstaufgabe
Johanna Adorján schreibt in ihrem aktuellen Roman „Geteiltes Vergnügen“ erneut über Liebe – die Idee, das Konstrukt und das Gefühl
Von Karolin Breitschädel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist eine ewig junge Frage: Was will die Liebe, wie funktioniert sie und was bedeutet sie? Dies ist schwierig zu sagen. Sie hat viele Facetten, und hinter jeder stehen Unmengen Geschichten. Manche werden erzählt: tragische, happy-endliche, hoffnungslose, rosarote.
Auch in Johanna Adorjáns neuem Roman Geteiltes Vergnügen geht es um eine Liebe. Adorján erzählt die Romanze zwischen Jessica, Journalistin mit Beziehungsproblemen, und Tom, Musiker mit Bindungsproblemen. Der Titel des Romans verrät und verschleiert gleichermaßen den Inhalt. Getreu dem Sprichwort ‚Geteilte Freude ist doppelte Freude‘ verheißt er ein doppeltes, unbändiges Vergnügen, das die Protagonistin durchlebt, und klingt in diesem Sinne nach Zuneigung, tollem Sex und nicht zuletzt Geborgenheit: „Es fühlte sich nach Zuhause an. Nach Angekommensein.“
‚Geteilt‘ bedeutet aber auch ‚unvollständig‘, ‚in Teile zerlegt‘, mithin ein Stück, dem etwas fehlt, ein Vergnügen mit Abstrichen. So schildert Jessica aus der Ich-Perspektive, als ein Teil des Vergnügens, Teilvergnügens und Nichtvergnügens, die unterschiedlichen Seiten der fiktiven, aber durchaus nachvollziehbaren Liebesaffäre – tragisch, glücklich, hoffnungslos, rosarot und endlich – und in drei Teilen. Die Endlichkeit der Romanze lässt sich von Beginn an absehen, schon anhand der Teilung der Geschichte, denn wo es einen ersten Teil gibt, gibt es sehr wahrscheinlich auch einen letzten. Schließlich kann nur rückblickend eine Einteilung in einzelne Etappen einen Sinn ergeben. Außerdem nehmen mehrere Nebensätze auf den ersten zwei Seiten bereits vorweg, dass die Beziehung zum Ist-Zeitpunkt des Erzählens beendet ist: „Zuletzt sah ich ihn gestern Nacht“, „Obwohl er nicht zu halten war“, er „drehte sich um – und war fort“. Nun versucht Jessica retrospektiv im Laufe des Romans, der sich über den Zeitraum eines Jahres erstreckt, sich und uns zu erklären, wie es dazu kam.
Der Umfang der einzelnen Teile halbiert sich ungefähr mit jedem neuen Teil. Beginnend mit Teil eins: Jessica trifft Tom, es wird schnell intensiv, sie verliebt sich, Widersprüche und Störfaktoren werden klein- bis schöngeredet: „Vielleicht hatten wir einfach nur verschiedene Tempi. Vielleicht wollte ich zu schnell zu viel. Aber war es nicht viel schöner, viel erwachsener vielleicht auch, die Dinge wachsen zu lassen?“ Dabei siedelt Jessica ihre Bedürfnisse in der Wertungskette offensichtlich unter denen von Tom an, obwohl sie findet, dass „die abrupten Wechsel von intensiver Nähe und keinem Kontakt immer schwerer auszuhalten“ sind.
Im zweiten Teil überkommen Jessica immer öfter Zweifel, aber noch verspürt sie eine große Sehnsucht nach dem, was sie nicht haben kann. Oder kann sie doch? Sie beginnt daran zu schrauben, was sie vermeintlich will und wollen kann oder wollen will, damit es einen Grund gibt, so weiterzumachen, damit es doch Übereinstimmungen zwischen irrationalem Verlangen und eigentlichen Überzeugungen gibt. An einer Stelle fragt Jessicas beste Freundin sie: „Wie ist denn das passiert, wie bist du dir denn so schnell abhandengekommen?“ Jessica opponiert, obwohl sie im Inneren weiß, „sie hatte recht.“
Als Tom aus familiären Gründen in seine Heimat Amerika reist und Jessica in München zurückbleibt, bringt die räumliche Trennung auch eine erste Loslösung Jessicas von ihrem Liebhaber mit sich – bis dann im dritten Teil des Romans die Wirkung des Liebesbannes endgültig verfliegt. „Er sah gut aus, aber auch so, als wäre er nicht richtig da. Wie die Erinnerung an einen gutaussehenden Mann.“
Der kurzweilige Roman und sein Thema mit Wiedererkennungswert machen es einem leicht, in die Geschichte einzusteigen. Adorján schleust den Leser in einem Rutsch durch das Buch hindurch; es gibt keine großen Zeitsprünge; man fühlt sich ‚nah dran‘ am Geschehen. Fast entsteht der Eindruck, man lese aus dem Tagebuch einer modernen Frau um die Dreißig, irgendwo zwischen beruflicher Erfüllung und partnerschaftlicher Enttäuschung, gesellschaftlichen Konventionen und eigenen Ansprüchen – und mitten in einer Krise. Adorján schreibt anschaulich, erzählt ohne Hektik. Mit dem richtigen Maß an Detailreichtum und Aussparungen weckt und stillt sie zugleich die Neugier ihrer LeserInnen. Man liest weiter, jedoch eher aus Sensationslust denn aus Mitgefühl mit der Protagonistin. Obwohl diese nämlich durchaus ein hohes Identifikationspotenzial mitbringt, wirkt sie ein bisschen zu abgestumpft, als dass sie einem wirklich leidtun könnte, wenn die unglückliche Liebe ihr zusetzt – und sie dennoch an ihr festhält. Zu leichtfertig kommen Sätze daher wie „Er hatte Kokain dabei, was ich nicht erwartet hätte“ oder „Aber ich tat wie geheißen, weil die Aufforderung von Tom gekommen war“, nachdem Tom Jessica dazu aufgefordert hat, mit seinem besten Freund zu schlafen. Auf der Textebene ist Geteiltes Vergnügen ein Liebesroman, der den Voyeurismus der Leser bedient. Auf einer Metaebene aber wird ein zum Teil erschreckendes Frauenbild gezeichnet mithilfe einer Protagonistin, die auf der Suche nach vermeintlicher Freiheit und Freigeistigkeit, von der sie denkt, sie fände darin Erfüllung oder müsse darin Erfüllung finden, sich regelrecht selbst verloren hat.
Man könnte diesen Liebesroman also ebenso gut als einen ‚Anti-Liebesroman‘ bezeichnen, als ein Negativbeispiel für Liebe, voller Warnsignale, das im Kontrast zu Happy-End-Hollywood-Liebesgeschichten sowie zu Adorjáns Debütroman Eine exklusive Liebe aus dem Jahr 2009 steht. In jenem literarischen Erstlingswerk arbeitete die Autorin, die ansonsten als Journalistin und seit 15 Jahren für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt, das Leben und insbesondere den Tod ihrer jüdischen Großeltern auf. Das im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten verfolgte Paar hatte sich am 13. Oktober 1991 gemeinsam und wohlgeplant mit Tabletten das Leben genommen. Adorjáns Familie schwieg zu dem Selbstmord, so wie die Großeltern zu Lebzeiten über den Krieg und ihre KZ-Haft in Mauthausen kein Wort verloren hatten. Johanna Adorján setzte sich über das Schweigen hinweg, indem sie ein Werk publizierte, das eine ganz andere Liebe porträtiert als diejenige, die in Geteiltes Vergnügen geschildert wird – und zwar eine bedingungslose, zurückgenommene und bescheidene, wie aus einer anderen Zeit.
Eine exklusive Liebe gegen ein geteiltes Vergnügen. Ein Damals gegen Heute? Vielleicht lässt sich aus dem neuen Roman eine gewisse Sehnsucht herauslesen, diejenige nach einer Liebe, wie sie die Großeltern der Autorin empfanden. Dagegen scheint das Liebesgefühl heute zu etwas Flüchtigem geworden zu sein, zu einem ständigen Wenn und Aber. So zeigt Geteiltes Vergnügen mit seinen Anflügen von Belanglosigkeit und falschem Stolz auch eine Selbstsüchtigkeit unserer heutigen Gesellschaft auf, die mit Selbstwertgefühl nichts mehr zu tun hat. „Mit dir bin ich der Mensch, der ich immer gerne wäre“ – Partnerschaft für die Selbstoptimierung. Und die Überraschung, „wie du für mich da warst, wie du mich unterstützt hast, ohne dass es dabei um dich ging“ – ein Weg von der Hingabe in die Selbstaufgabe. Adorján führt ihre Protagonistin Jessica, übrigens auch Jüdin, über knapp 180 Seiten vor (und auch uns, wenn wir uns in ihr wiedererkennen), um im letzten Zehntel eine positive Wendung des Charakters mit der finalen Befreiung – aus dem Bann des Mannes, der Abhängigkeit von ihm, der eigenen Unsicherheit, den festgefahrenen Konventionen, der Sackgasse − zu vollziehen. Auf der letzten Seite heißt es: „Und in einem Augenblick, den ich für immer wie in Zeitlupe erinnern werde, entschied ich mich, nicht stehen zu bleiben, sondern weiterzugehen.“ Diesmal wirklich aus Liebe – zu sich selbst.
Je nachdem, welchen Maßstab man an den Roman anlegt, bietet Geteiltes Vergnügen die Möglichkeit, einen gesellschaftskritischen Unterton aus dem Buch heraus- oder auch in es hineinzulesen: Nebenwirkungen der weiblichen Sehnsucht, Symptome der Angst, allein zu sein und verlassen zu werden. Wenn man nicht gerade die Gender Studies bemühen will, ließe sich die Botschaft des Romans auch auf ein ‚Bleib dir selbst treu‘ reduzieren oder einen vergleichbaren Spruch, wie man ihn von Glückskeksen kennt. Eine Frau um die Dreißig von heute (zwischen beruflicher Erfüllung und partnerschaftlicher Enttäuschung, gesellschaftlichen Konventionen und eigenen Ansprüchen) kann sich im Text wiederfinden und Trost oder einen anderen Mehrwert zwischen Kitsch und Kritik entdecken. So wie man es von gehobener Unterhaltungsliteratur – was, das will betont werden, nicht despektierlich zu verstehen ist – erwartet. An manchen Stellen schießt Adorján allerdings etwas übers Ziel hinaus, sodass ihre Hauptpersonen wie Abziehbilder von klischeehaften Mitmenschen unserer Zeit wirken. Genauso könnte man der Autorin aber durchaus Absicht unterstellen und sie zu erfolgreicher Stereotypenzeichnung beglückwünschen – zu einem, wenn auch etwas eindimensionalen, aber nicht unzutreffenden Ab(zieh)bild unserer Gesellschaft und dem heutigen Verständnis von Liebe. So ist Geteiltes Vergnügen, wenn schon keine innovative ‚große‘ Literatur, doch mindestens ein gelungener und empfehlenswerter Liebes- und Gegenwartsroman.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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