Zum Verzweifeln

Hedwig Pringsheims Tagebücher aus den ersten Kriegsjahren liegen nun als fünfter Band der Gesamtausgabe vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem fünften Band der von Cristina Herbst seit 2013 herausgegebenen Tagebücher Hedwig Pringsheims liegen nun die Aufzeichnungen der Schwiegermutter Thomas Manns aus den Jahren 1911 bis 1916 vor. In deren Mitte fiel bekanntlich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Von da an sind die Tagebuchnotizen – wie könnte es anders sein – von den Kriegsereignissen geprägt. Doch waren auch schon die Jahre zuvor nicht zuletzt wegen einer „ernstlichen“ Lungenerkrankung von Pringsheims „größtem Sorgenkind“, ihrer Tochter Katja, eine Zeit „der Sorge und des Kummers“, wie die Herausgeberin formuliert, deren Vorbemerkungen wie schon in den früheren Bänden überaus informativ, kenntnisreich und detailliert sind. Dass Herbst hier und in den Fußnoten die angelsächsische Schreibweise des Genitivs benutzt („Katja’s“, „Ludwig Fulda’s“), stört allerdings doch ein wenig.

Auch die Tagebucheinträge Pringsheims gleichen, zumindest in formaler Hinsicht, denjenigen in den früheren Bänden. Sie sind nach wie vor meist kurz, manchmal fast stichwortartig. Auch verzeichnet Pringsheim weiterhin ihre täglichen Korrespondenzen, die häufigen Theater- und Konzertbesuche sowie ihre meist abendlichen Lektüren. Auch Filmvorführungen besucht sie nun, wenngleich höchst selten. So schaute sie sich im Herbst 1915 ein „herrliches Detektivstück“ an. Einen wohl noch stärkeren Eindruck als das 1915 nicht mehr ganz so neue Unterhaltungsmedium Kintopp dürften die „fabelhaften Saurier“ bei Pringsheim hinterlassen haben, die sie anlässlich eines mathematischen Kongresses, zu dem ihr Mann 1912 nach London geladen war, im naturhistorischen Museum der englischen Hauptstadt bestaunen konnte.

Gar nicht fabelhaft, sondern „recht eigentlich schlecht, aber in der durchweg guten Aufführung doch wirksam“ fand sie im Jahr zuvor Gerhard Hauptmanns Stück Die Ratten. Arthur Schnitzlers Anatol wiederum hätte wenigstens „unterhaltend u. ganz fein“ sein können, wenn er nur „besser gespielt“ worden wäre, und sein Weites Land moniert sie empfindlich als „nicht einwandfreies, etwas grob wirkendes Stück“. Frank Wedekinds Franziska kann die Tagebuchschreiberin nicht einmal ernst nehmen und tut es als „echt Wedekindschen bluff“ ab. Ähnlich harsch urteilt sie oft über ihre Lektüren – auch dann, wenn sie von bekannten oder befreundeten AutorInnen verfasst sind. Dass Ganghofers zu ihrem Bekanntenkreis zählen, hindert sie nicht daran, den Roman Der Wille zum Leben ganz münchnerisch als „fürchterlichen Schmarren“ abzutun. Gabriele Reuter wiederum traf sie gelegentlich bei Besuchen ihrer Mutter an, doch schützt das die Schriftstellerin nicht davor, dass Pringsheim ihren Roman Frühlingstaumel als „schwach“ moniert. Ähnlich ergeht es Grete Meisel-Hess, deren „Lügengeschichten“ während eines „Strickkränzchen“ im Hause Hedwig Dohms Pringsheim zwar „schamlos belustigen“. Doch deren „Sexualbuch“ – Herbst vermutet, es handelt sich um Das Wesen der Geschlechtlichkeit – legt sie schon nach kurzem Durchblättern als „gräßlich“ zur Seite. Ein hartes Urteil, das Meisel-Hess allerdings nicht zu Ohren kommen sollte. Vielmehr hat Pringsheim als gute Tochter anschließend „aus Gefälligkeit fürs arme Mimchen“ – wie sie ihre Mutter zeitlebens zärtlich zu nennen pflegte – „sehr widerwillig, einen gründlich verlogenen Brief an Meisel-Heß geschrieben“.

Selbstverständlich ist auch Thomas Mann vor der Kritik der eifrigen Leserin nicht gefeit. So „enttäuschte“ sie etwa der Schluss von Tod in Venedig. „Großartig“ findet sie hingegen Emile Zolas Germinal, und den ebenfalls naturalistischen Roman Eine Handvoll Erde der deutschen Schriftstellerin Clara Viebig, deren Vornamen sie falsch „KL.“ abkürzt, immerhin „nicht schlecht“. Zählten zu ihren früheren Lektüren etliche Werke philosophischer Geistesgrößen, so verzeichnen die Tagebücher des vorliegenden Bandes nur noch wenig genuin Philosophisches wie Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung. Erstaunlich, dass Pringsheim nicht schon früher dazu gegriffen hat. Spätestens die Lektüre der unmittelbar nach ihrer Publikation 1901 gelesenen Buddenbrooks hätte sie dazu anregen können. Recht gelitten zu haben scheint sie während eines Vortragabends von Karl Kraus, der am 13. Februar 1914 geschlagene „2 ¾ Stunden vorlas! Teils recht witzige Skizzen über unerhebliche Gegenstände, teils im höchsten, sich überkreischenden Pathos empörte Auslassungen über allgemeine Gegenstände der Menschheit: ein furchtbarer, auf die Dauer unerträglicher Komödiant voll Begabung u. Verlogenheit“.

Nicht nur über manche musische Veranstaltung, die nicht immer ein Kunstgenuss war, kann sich Pringsheim echauffieren, sondern, wie auch früher schon, über heftige Regengüsse und dergleichen meteorologischen Unbill. So schimpft sie schon einmal von Herzen über „Schand-, Sau- u. Dreckwetter“.

Auch die Besuche von und bei Bekannten und Freunden werden wie ehedem verzeichnet. Zunehmend häufiger sind nun allerdings auch Todesfälle im Bekannten- und Freundeskreis zu betrauern. Das hat zunächst einmal nichts mit dem Krieg zu tun, sondern vielmehr damit, dass Hedwig Pringsheim – sie ist im vom vorliegenden Band abgedeckten Zeitraum 56 bis 61 Jahre alt –  und somit auch ihre Freunde und Bekannte langsam in ein etwas fortgeschritteneres Alter kommen. So erwähnt sie Anfang 1912 etwa die „Kondolenz an die Goudstikker zu Ika Freudenbergs Tod“. Dies und mehr noch, dass „alle Münchner Damen bei Ika Freudenbergs Totenfeier“ waren, zeigt, dass lesbische Partnerschaften im leuchtenden München durchaus bekannt und anerkannt waren. Dass nur – oder doch zumindest ganz überwiegend – Frauen an den Trauerfeierlichkeiten teilnahmen, mag wiederum daran liegen, dass Freudenberg eine über die Grenzen Münchens hinaus bekannte Frauenrechtlerin war. Sie wurde nur 54 Jahre alt.

Zuvorderst wird natürlich Pringsheims Mutter Hedwig Dohm von den Gebrechen des Alters geplagt. Die bekannte Feministin ist in dem vom vorliegenden Band erfassten Zeitraum 80 bis 85 Jahre alt. Meist geht es ihr nicht besser als gerade einmal „leidlich“. Nur höchst selten zeigt sie sich „recht munter“. Weit öfter aber findet Pringsheim sie „sehr elend“ vor. Offenbar war Dohm darum besorgt, ihre Bestattung selbst ihren eigenen Vorstellungen gemäß durchführen zulassen. Denn im Frühjahr 1913 notiert Pringsheim, dass ihre Mutter dem Verein für Feuerbestattung beigetreten ist.

Dohms Gebrechen sind allerdings ausschließlich körperlicher Art. Geistig ist die Grande Dame des Feminismus noch immer uneingeschränkt auf der Höhe, was sich etwa in ihren zahlreichen Publikationen niederschlägt, die sie vor der Drucklegung noch immer ihrer Tochter zur kritischen Lektüre vorlegt, wie die Tagebuchschreiberin regelmäßig vermerkt. Nicht in jedem Fall konnte Herbst ermitteln, um welche Manuskripte es sich im Einzelnen handelt. Doch das ist nicht weiter bedauerlich, da sich Pringsheim in den Tagebüchern kaum inhaltlich zu ihnen äußert. Und wenn sie dies doch einmal tut, dann nur höchst allgemein. So notiert sie etwa am 28. August 1913 „Mims Suffragetten-Artikel gedruckt u. den ‚Jung gefreit hat noch niemand gereut‘ kritisch mit dem Bleistift gelesen; sehr kritisch“. Weit bedauerlicher ist hingegen, dass ein am 14. November des gleichen Jahres im Tagebuch Germania genannter Text Dohms unbekannt, vermutlich ungedruckt und wohl verloren ist. Ebenso ein im Dezember 1914 im Tagebuch erwähnter „Kriegsartikel“ sowie 1916 die Wanderbilder einer Seele. Auch ihrer Mutter gegenüber hielt Pringsheims mit ihrer Kritik an deren Texten keineswegs hinter dem Berg, wie etwa der Tagebucheintrag aus dem Januar 1916 „Brief an Mim, mit strenger Kritik über ihr ‚weibliches Dienstjar‘“ zeigt. Andernfalls hätte Dohm ihre Arbeiten ihrer Tochter auch wohl kaum zur Durchsicht vorgelegt. An unkritischem Lob war ihr sicher nicht gelegen.

Trotz des oft kläglichen Gesundheitszustandes besuchen Mutter und Tochter einander weiterhin häufig, unternehmen etwas miteinander und besuchen beispielsweise die „komplett unsinnigen ‚Futuristen‘“. Leider erläutert Herbst ausnahmsweise einmal nicht, wovon hier genau die Rede ist, vermutlich von einer Ausstellung.

Im August 1913 erhält Dohm zu ihrem „falschen 80. Geburtstag“ (tatsächlich wurde sie bereits 82 Jahre alt) neben zahllosen Karten „130 Briefe, 85 Depeschen, 10 Blumen-Arrangements, 3 Adressen, zahllosen Artikel“, wie Pringsheim offenbar nicht ohne Stolz und voller Freude für ihre Mutter notiert. Einen der Artikel, Was ist uns Hedwig Dohm? von Anna Plotho, hat Herbst in den Anhang aufgenommen.

Nun stand zwar auch Pringsheim selbst der Frauenbewegung nicht fern. Sie gehörte etwa dem Verein für Fraueninteressen an und nahm an dessen Veranstaltungen teil, doch „hat sie es immer vermieden, sich dort aktiv zu beteiligen“, wie Herbst informiert. Über den Besuch feministischer Veranstaltungen ist aus den Tagebüchern insgesamt zwar nur wenig zu erfahren. Doch über die im November 1912 abgehaltene vierte Generalversammlung der Münchner Ortsgruppe des Bayrischen Vereins für Frauenstimmrecht berichtet sie, wenngleich in dem typischen Stakkato der Tagebucheintragungen, so doch für ihre Gepflogenheiten ausgesprochen ausführlich und notiert, dass es „bitter u. kriegerisch zuging, ekelhaftes Ehepaar Kremer Front gegen den Vorstand machte u. die Heimann [sic!] gut, Augspurg schlecht abschnitt. Das Referat von Frau [Constanze] Hallgarten über ‚Frauen in der Politik‘ überraschend gut. Kam erst gegen ¾ 12 heim!“

Nicht nur über die Frauenbewegung, sondern über Politik und Weltgeschehen ganz allgemein schweigt das Tagebuch weithin. Gerade einmal, dass Pringsheim 1912 das „gräßliche Schiffsunglück der ‚Titanic‘“ erwähnt. Dieses Schweigen endet allerdings mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges, genauer gesagt mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers und seiner Frau, über die sie am 28. Juni 1914 fast ein wenig blasiert bemerkt, sie sei durch die Nachricht des Doppelmords beim Spaziergang im Garten „unliebsam unterbrochen“ worden. Zwei Tage später erhält sie nicht mehr ganz so gelassen die „aufregende Mobilisierungsnachricht“. Schon kurz darauf, an einem Tag Anfang August bemächtigt sich „grenzenlose Aufregung“ der bayrischen Metropole: „in der ganzen Stadt das Gerücht verbreitet, das Wasser sei vergiftet! Natürlich unwahr, doch kein Tee getrunken, bis Alfred vom Wasserbauamt zurück“.

Notiert sie Meldungen über des Kriegsgeschehen im Jahr 1914 noch sehr regelmäßig und hält insbesondere die „glänzenden Erfolge“ und „großen Siege“ fest, so verringern sich die Eintragung mit der Dauer des bald „stehenden“ Krieges, von dem es „immer nichts neues“ zu berichten gibt, wie sie schon im September 1914 klagt. Dennoch erhofft Pringsheim nicht so sehr einen baldigen Sieg, sondern einfach, dass das gegenseitige Morden enden möge. Zumal einer ihrer Söhne, Peter, in Kriegsgefangenschaft geraten war und auf Freilassung kaum vor Kriegsende gerechnet werden konnte.

Zu den Münchner Nahrungsmittelunruhen 1916 hat sie allerdings ein voyeuristisches Verhältnis. „Bei Regen in die Stadt, die zerschlagenen Fensterscheiben am Marienplatz u. Rindermarkt, die bei gestrigem Nahrungsmittelauflauf eingeworfen, besichtigt, Revolutionsluft gewittert“, notiert sie am 18. Juni 1916. Kein halbes Jahr später ist der Krieg auch für sie persönlich bedrohlich nahe gerückt. Als sie am Mittag des 17. November nach Hause kommt, „hatte eben dicht bei uns feindlicher Flieger Bombe geworfen, glücklicherweise aber nur sämmtliche Scheiben der Bonifazkirche zertrümmert! Immerhin…!“

Klingt dies womöglich auch allzu lapidar, so lesen sich die Eintragungen an Silvester, die sie jeweils für Reflexionen über das vergangene Jahr und einen Ausblick auf das kommende nutzt, vom ersten Kriegsjahr an düster und von Mal zu Mal verzweifelter. „Das Jar schließt deprimiert mit der Aussicht auf einen endlosen Krieg […]. Im Westen ‚steht‘ der Krieg eigentlich seit Monaten, bei entsetzlichsten blutigsten Verlusten auf allen Seiten“, notiert sie Silvester 1914. Den folgenden Jahreswechsel 1915/16 hat sie „allein und one Feierlichkeit beschlossen, unter dumpfem Druck, der auf uns allen lastet. […] man fragt sich trost- und hoffnungslos, wie und wann dieser schreckliche Krieg überhaupt je enden soll […]. Ein schlimmes, furchtbares Jar, das wir verlassen, ein schwarzverhängtes, in das wir eintreten.“ Am 31. Dezember 1916, dem Tag des letzten Eintrags im vorliegenden Band, ist „die Weltlage entsetzlicher denn je, die Entente lehnt unsere Friedensangebot u. Wilson’s Vermittlung höhnisch und schroff ab […] nun wird der unmenschliche Wansinn in verst[ärk]tem Maße weiter gehen. Unsere Lage in Rumänien glänzend, im übrigen ‚steht‘ alles.  Die wirtschaftliche Not unermeßlich – auch hier kann es nur, muß es schlimmer werden. Kurz, es ist ein Jaresschluß, hoffnung[-] und trostlos, zum Verzweifeln.“

Titelbild

Hedwig Pringsheim: Tagebücher. 1911-1916.
Kommentiert und herausgegeben von Cristina Herbst.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
827 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318045

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