Weltuntergang auf 170 Seiten

Felicitas Schmieder hat einen Band über mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes herausgegeben

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weltuntergangserwartungen, Zukunftsängste und allgemein das Gefühl einer wesenhaft bedingten Unsicherheit des Daseins erscheinen dermaßen aktuell, dass es vermeintlich des Blickes in das europäische Mittelalter nicht bedarf, um diese Bereiche zu thematisieren. Gleichwohl ist es sicherlich nicht zum Schaden, den Blick gerade auch in die entsprechenden Texte und in ihnen transportierten mittelalterlichen Erwartungen zu lenken. Ob allerdings ‚mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes‘ auf 170 Seiten ausreichend Platz findet? Die Antwort auf diese selbstverständlich rhetorisch gemeinte Frage kann zwar nur ‚nein‘ lauten, was aber definitiv nicht heißt, dass hier nicht Aspekte aufgetan werden, die die Lesenden dem Thema näherzubringen vermögen.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines vom ‚Internationalen Kolleg für geisteswissenschaftliche Forschung‘ (IKGF) im April 2014 in Erlangen abgehaltenen Workshops zum Thema ‚Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa‘ – wobei im vorliegenden Band das Feld Ostasien ausgespart bleibt, wie der insbesondere durch seine Forschungen zum mittelalterlichen Pilgerwesen bekannte Klaus Herbers in seinem Geleitwort ausführt. Hier werden Rahmen aufgezeigt, die in den Beiträgen, aber bereits auch in der lesenswerten Einleitung der Herausgeberin, Felicitas Schmieder, die neben grundlegenden Ausführungen auch die einzelnen Beiträge vorstellt, aufgegriffen sind bzw. verdeutlicht werden.

Der lesenswerte Beitrag Elizabeth Boyles ‚Forming the future for individuals and institutions in mediaeval Ireland‘ führt in eine in Zentraleuropa doch eher wenig bekannten (Vorstellungs-)Welt einer Aufbruchsgesellschaft ein, die – wie etwa das oft zu kurz gegriffen als ‚irische Mission‘ bezeichnete Phänomen der Peregrinatio –von endzeitlichen Erwartungen geprägt war, gleichwohl aber auch in pragmatischen Linien dachte. Zwar sieht Boyle eine weitgehend von eschatologischen Vorstellungen abhängige Idee der Zukunft, verweist aber überdies auf zirkulierende Zeitvorstellungen, die in der rückwärtsgewandten Epoche des Wirkens des Heiligen Patrick ein Goldenes Zeitalter definieren, das es wieder zu erreichen gelte. Daneben werden allerdings auch Texte erwähnt, die auf den Pragmatismus der Zukunftsplanung verweisen, den jede Gesellschaft, die Bestand haben möchte, zum Überleben braucht.

Barbara Schlieben geht in ihrem Beitrag ‚Zum Zusammenhang von Gegenwartsbetrachtung und Prognose im Frühmittelalter‘ auf den zeitlichen Rahmen zwischen 840 und 1020 ein, der ereignisgeschichtlich etwa durch die als katastrophal empfundenen Expansionen von Ungern, Bulgaren und Wikingern geprägt war. Hier arbeitet die Autorin das zumindest implizit zu postulierende Vorhandensein systematisch-modellhafter Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heraus. Dies geschieht auf der Grundlage der ‚Liber manualis‘ der Dhuoda, des ‚Polipticum‘ Attos von Vercelli und der ‚Chronik‘ Thietmars von Merseburg. Die Schlußfolgerung ist daher nahezu zwingend: „Alle drei, Dhuoda, Atto und Thietmar, beschäftigten sich mit der Zeit, die noch blieb, mit der Zeit vor dem Ende, mit der Gegenwart und eben deshalb mit der nahen Zukunft.“ Damit werden – im Frühmittelalter allerdings theologisch dominierte – Vorstellungen erkennbar, die auf säkularer Ebene auch gegenwärtig noch aktuell sind.

Anke Holdenried lenkt in ‚Implicit future in the Old Testament: Hugo of St Victor and Peter the Chanter on the prophecies of Isaiah‘ den Blick auf eine, in der Mittelalterrezeption aufgrund der Akzentuierung auf die Johannesapokalypse in den Hintergrund geratene Exegese zu prophetischen Texten des Alten Testaments, insbesondere der Jesaiah-Prophetien. Am Beispiel der beiden im 12. Jahrhundert wirkenden Pariser Gelehrten Hugo von St. Viktor und Petrus Cantor Parisiensis werden die mittelalterlichen Auslegungen von Jes. 11,2 und Jes. 11,6 thematisiert. Holdenried arbeitet heraus, dass es diesen beiden Gelehrten – und sie weitet das Ergebnis sogar auf weite Kreise der mittelalterlichen Gelehrtengemeinde aus – weniger auf messianisch orientierte Betrachtungen ging, sondern vielmehr ein individueller Zugang zu diesen Texten als Möglichkeit der Katharsis intendiert war. Diese so modern anmutende Haltung wird laut der Autorin nicht zuletzt einer Adaption ähnlicher Ansätze bei den Kirchenvätern, hier insbesondere Augustinus und Hieronymus, zu verdanken sein, die aus der Spätantike in die mittelalterliche Geistes- und Theologiewelt transferiert wurde.

Hans Christoph Lehner (‚Die Zeit die bleibt: Historiographische Notizen zu Endzeit und eschatologischem Aufschub‘) thematisiert die Endzeit(nah)erwartungen der Stauferzeit anhand historiographischer Überlieferungen, etwa Ottos von Freising, Arnolds von Lübeck und Alberts von Stade, die Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang der Stauferherrschaft erlebt und in ihre Werke implementiert hatten. Gemeinsam ist den drei Gelehrten die Naherwartung der Endzeit, die nur wegen der Frömmigkeit der Mönche noch nicht eingetreten bzw. ohne kirchliche Reformen nicht mehr aufzuhalten sei. Erkennbar ist hier die Idee einer Verknüpfung eines systemischen Rahmens mit dem individuellen Schicksal der Menschen jener Epoche.

Susanne Ehrich geht in ‚Der Antichrist als Inbegriff zukünftigen Unheils – Heilsgeschichte und ihre eschatologische Deutung in der „Apokalypse“ Heinrichs von Hesler und den Chorfenstern in der Marienkirche in Frankfurt/Oder‘ auf die Erweiterung sowohl der Auslegungsbasis als auch der Adressaten ein. In der Mitte des 13. Jahrhunderts verfassten ‚Apokalypse‘ werden neben der biblischen Basis auch die Legenden vom ‚Endkaiser‘ und dem ‚Antichristen‘ aufgenommen; Heinrichs Schrift, die ein dreigeteiltes Zeitschema zugrundelegt, wurde insbesondere in den mitteldeutschen Kommenden des Deutschen Ordens rezipiert und korrespondiert mit den drei Kirchenfenstern der Frankfurter Marienkirche, die die ‚Genesis‘, das Leben Christi‘ und das ‚Leben des Antichrist‘ darstellen.

Auch Ulrike Wuttke (‚[Re]forming the Future: Prophecy as a means to reform in Jan van Boendale’s „Boec van der Wraken“‘) thematisiert den Wandel der Wirkungs- und Wahrnehmungswelt. Das Aufgreifen einer älteren eschatologischen Prophetie durch Jan van Boendale wirkte, so Wuttke, weniger wegen der in diesem Text angesprochenen Naherwartung, sondern wegen eines moralisch untermauerten Aufrufs zur Reform. Die Reform im Jetzt, die sowohl der Rettung des Individuums als auch der Gemeinschaft dient, führt gleichwohl in die eschatologische Zukunft.

Ähnlich argumentiert Pavlina Cermanova (‚Waiting for paradies – waiting for damnation: Concepts of Apocalyptic Time in prophecies of Hussite period‘), die in der bewegten Zeit der Hussiten im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts durch die Naherwartung des Weltendes moralische Kräfte freigesetzt sieht. Bemerkenswert ist, dass sowohl die reformatorischen Hussiten als auch ihre altgläubigen Gegner sich in ihren Argumenten auf die gleichen Texte sowohl lateinischer als auch volkssprachlicher Provenienz beriefen. Auffällig, und angesichts der Radikalität der Hussitenkriege, die als Fanal für die Gegenwart des chiliastischen Übergangszustandes angesehen werden konnten, überraschend, ist in diesem Zusammenhang die Mahnung des Haupttheologen der utraquistischen Prager Universität, Jakob von Stříbo, die prophetischen Aussagen nicht als konkrete Maßeinheiten real und gegenwärtig eintretender apokalyptischer Ereignisse anzusehen.

Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Die ‚mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes‘ ist auf 170 Seiten tatsächlich nicht zu bewältigen. Gleichwohl werden Brücken über weite geographische und zeitliche Sphären geschlagen und dabei durchaus auch weniger bekannte Aspekte dieses Themenkreises beleuchtet. Dies und nicht zuletzt auch der keineswegs ‚apokalyptische‘ Preis des Bandes werden dazu beitragen, dass diese lesenswerte Aufsatzsammlung auch außerhalb von wissenschaftlichen Bibliotheken nicht nur das hochverdiente Interesse, sondern auch die ebenso verdiente Abnahme finden wird.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Felicitas Schmieder (Hg.): Mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes. Forming the Future Facing the End of the World in the Middle Ages.
Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2015.
176 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783412501945

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