Der Mann, der nach Sherlock Holmes kam
Ein früher Hercule-Poirot-Roman lädt zum Wiederentdecken und Mitraten ein
Von Wieland Schwanebeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAgatha Christie gilt als die unangefochtene Königin des Detektivromans – längst prangt auf Neuauflagen ihrer Bücher der Hinweis, dass ihre Auflagenzahlen allenfalls von denen der Bibel in den Schatten gestellt werden, und bis heute sind ihre Werke sowie deren Adaptionen beim Publikum anerkannt (bei der Kritik und im Feuilleton, das traditionell die stilistische Innovation und die schlüssige Figurenzeichnung höher bewertet als den ausgefeilten Plot, dagegen weniger). Christies Popularität ist derart ungebrochen, dass es kaum Versuche gegeben hat, sie vom Sockel zu stoßen – die wenigen Parodien ihrer Geschichten sind sehr milde, die neu entstandenen Christie-Fortsetzungen (Sophie Hannahs zweiter Poirot-Roman wird im Herbst erscheinen) knüpfen nahtlos an ihre Erfolgsformel an, und selbst revisionistische Verfilmungen (wie die jüngst von der BBC anlässlich von Christies 125. Geburtstag gestemmte Neuverfilmung von „Und dann gab´s keines mehr“) verzichten auf substantielle Eingriffe in die Vorlage.
Der Atlantik-Verlag lässt die Jubiläumsfeierlichkeiten noch ein wenig andauern und hat in den vergangenen Jahren eine Reihe erschwinglicher Neuübersetzungen von Christies Romanen vorgelegt. Da die Autorin nicht als große Stilistin gilt, mutet diese Hingabe zunächst seltsam an, tatsächlich offenbart sich aber, welche Freiheiten sich hiesige Verlage früher mit Christies Werk genommen haben. Eine vergleichende Lektüre von Gabriele Haefs‘ Neuübersetzung von „Mord auf dem Golfplatz“, der alten Fassung des Scherz-Verlags sowie von Christies Original enthüllt beträchtliche Auslassungen – allein im ersten Kapitel sind in der alten Übersetzung ganze Dialogpassagen gekürzt worden, auch Christies Kapitelüberschriften blieben bislang unberücksichtigt. Insofern ist die neue Übersetzung durchaus angebracht, zumal Haefs sehr gute Arbeit leistet – eine etwas anachronistische Katachrese („wenn das nicht dem Fass die Krone ins Gesicht schlägt“) kann man nachsehen, aber würde ein Charmeur wie Hastings einer Dame in den besten Jahren wirklich attestieren, sie sei „sehr gut erhalten“?
Selbstverständlich ist die Wiederbegegnung mit Christie nicht nur für interessierte Philologen interessant – wer Christie liest, möchte von ihrem Detektiv Hercule Poirot in Bann geschlagen und von der Lösung des Rätsels verblüfft werden. Das Frühwerk „Mord auf dem Golfplatz“ (Christies zweiter Poirot-Roman) ist gerade im Hinblick auf letztere Erwartungshaltung ein Gewinn, zeigt sich doch hier bereits der überbordende Ideenreichtum der Autorin in der Konstruktion eines zwar unwahrscheinlichen, aber gewitzt ausgetüftelten Rätsels – das Verbrechen basiert sogar (ohne zu viel verraten zu wollen) auf gleich zwei originellen Kunstgriffen, die Poirot selbstredend durchschaut, um der Polizei den Mörder des reichen Monsieur Renauld zu präsentieren. Gemessen an Christies späterer Erfolgsformel wirkt hier zwar einiges noch unfertig, aber gerade darin besteht der Reiz des Buchs – Poirot ist noch nicht zur Karikatur seiner selbst verkommen, zudem wird auf die später obligatorische Theatralik der Auflösung vor den versammelten Verdächtigen verzichtet.
Dass sich die Autorin noch auf der Suche nach ihrem distinkten Ton und ihrer Nische im Genre befindet, zeigt sich nicht nur an ein paar stilistischen Fehlgriffen (gerade wenn man bedenkt, dass der Roman in Frankreich unter Französisch sprechenden Ermittlern und Verdächtigen spielt, fällt einem das inflationär eingestreute „Eh bien“, „Mon ami“ und „très chic“ bereits nach wenigen Kapiteln ziemlich auf die Nerven), sondern auch daran, dass Poirots größter Gegenspieler hier nicht der Mörder, sondern ein rivalisierender Detektiv ist. Mit dem „menschlichen Jagdhund“ Monsieur Giraud, der jeder Fußspur und jedem Fingerabdruck hinterherkriecht, entbietet Christie dem Gattungstitan Sherlock Holmes einen vergifteten kleinen Gruß. Natürlich steht die Autorin auch in der Schuld des großen Arthur Conan Doyle, sind doch die Parallelen zwischen dessen Gespann Holmes/Watson und ihrem Ermittler-Duo Poirot/Hastings kaum zu übersehen: Wie einst Conan Doyle im „Zeichen der Vier“ verabschiedet auch Christie ihren Watson bereits mit dem zweiten Abenteuer in den Ehestand, von wo er freilich in der Folge gelegentlich zurückkehren wird, um dem Meister zur Seite zu stehen und sich als treuer Chronist zu bewähren. Poirots unvermeidlicher Triumph über den Holmes-Verschnitt Giraud signalisiert eine Wachablösung im Genre – Christies Debüt („Das fehlende Glied in der Kette“, 1920) war kurz vor dem Beginn von Conan Doyles letztem Sherlock-Holmes-Zyklus („Sherlock Holmes´ Buch der Fälle“, 1921-1927) erschienen, und Conan Doyle stirbt 1927, kurz nachdem sich Christie mit Alibi endgültig als neue Großmeisterin der Gattung etabliert hat.
Poirot mag eine andere Methode favorisieren als der durch die Lupe blickende Sammler von Zigarettenstummeln, weniger hanebüchen ist sie sicher nicht. Dass Poirot an einer Stelle doziert, man könne aus dem Gesichtsausdruck des Opfers schließen, „dass ihm das Messer in den Rücken gestochen wurde“, spricht für geradezu hellseherische Fähigkeiten, und wenn hier vermeintlich in die Abgründe der menschlichen Natur geblickt wird, dann meint dies vor allem Poirots Überzeugung, der Charakter eines Menschen sei grundsätzlich erblich, und seinen Rückgriff auf Vorurteile und Stereotype (unter anderem über fromme Mädchen und hitzköpfige junge Männer). An dieser Stelle gehen nicht selten die Pferde mit der Autorin durch – zwar deutet sich ihre Ironiefähigkeit an, doch es wimmelt nur so vor Gemeinplätzen des schwülstigen Liebesromans, den sie ebenfalls regelmäßig bediente. Wer hier aus Afrika zurückkehrt, war natürlich zur Großwildjagd da, aus Amerika lässt sie Selfmade-Millionäre und aus Frankreich die Femme fatale einfliegen. Hält Poirot, wenn er seinen treuen Hastings gelegentlich für dessen klischeehafte Fantasie schilt, möglicherweise auch ein wenig Gericht über seine Schöpferin?
Christie sollte im Feld des Detektivromans mit fabelhaften Konstruktionen wie dem Mord im Orientexpress (1934) oder ihrem Meisterstück Vorhang (1975) in der Folge noch große Taten vollbringen. Als eine kurzweilige, streckenweise fesselnd geschilderte Arbeitsprobe lohnt aber auch dieser kleine Frankreich-Abstecher ihres unverwechselbaren Detektivs.
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