Ein ideales Publikationsgefäß für die internationale Germanistik
Zur aktuellen Ausgabe der „Recherches Germaniques“
Von Alina Timofte
Die 1971 von Gonthier-Louis Fink, einem der bedeutendsten Germanisten Frankreichs, gegründete und seit 2013 von Aurélie Chone und Catherine Repussard herausgegebene Fachzeitschrift Recherches Germaniques erscheint jährlich im Verlag der Universität Strasbourg und veröffentlicht Beiträge zu Literatur- und Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum.
Die Zeitschrift versteht sich als Forum für den Dialog zwischen französischer und internationaler Germanistik. Ein Blick auf das Inhalts- und Autorenverzeichnis der aktuellen Ausgabe 45/2015 bestätigt das. Hier versammelt sind insgesamt sieben, in deutscher und französischer Sprache verfasste Aufsätze von NachwuchswissenschaftlerInnen und etablierten WissenschaftlerInnen, die jeweils an Lehrstühlen für Germanistik in Frankreich, La Réunion, Rumänien, Belgien, Benin und Großbritannien tätig sind. Ein breites Themenspektrum und ein ebenso breiter Zeitraum (18. bis 21. Jahrhundert) werden hier abgedeckt.
Der Beitrag Valérie Leyhs untersucht die gelebte und literarische Frauenfreundschaft zwischen der kurländischen Baronin und Schriftstellerin Elisa von der Recke und der Pfarrerstochter Sophie Becker vor dem Hintergrund des Freundschaftskults im 18. Jahrhundert. Die Verfasserin zeigt dabei, inwiefern der Standesunterschied das egalitäre Freundschaftsideal der Aufklärung herausfordert.
Mit dem nächsten Beitrag gelangt man ins 19. Jahrhundert, genauer gesagt in die Zeit um die Jahrhundertmitte, als der deutsch-französische Schriftsteller und Abolitionist Gustave Oelsner-Monmerqué mit seinen Schriften und Unternehmungen Aufklärungsarbeit leistete über die Missstände der kolonialen Herrschaft und der Sklaverei auf der Insel Bourbon (heute La Réunion). 2015 wurde mit der Neuauflage des Romans Schwarze und Weiße. Skizzen aus Bourbon im Bielefelder Aisthesis Verlag durch die Herausgeberinnen Marlene Tolède und Gabriele Fois-Kaschel von der Universität La Réunion ein literarisches Zeugnis von sozial- und kulturwissenschaftlichem Wert nach knapp 200 Jahren in den deutschen Kulturraum ‚reimportiert‘. Somit wurde dieses deutschsprachige Fundstück aus dem Vormärz, welches Aspekte wie Sklaverei, Kannibalismus, Hybridisierung, Kreolisierung, ‚interrassische‘ Sexualität und Folter im kolonialen Kontext aufgreift, auch der Wissenschaft präsentiert. Vor diesem Hintergrund ist Marlene Tolèdes lesenswerter Aufsatz als wegbereitenden literaturwissenschaftlichen Beitrag zu der bereits durch die kritische und kommentierte Neuedition maßgeblich vorangetriebene Wiederentdeckungsarbeit zu betrachten. Zum einen rekonstruiert die Autorin die beeindruckende Biografie von Oelsner-Monmerqué und insbesondere dessen Aufenthalt auf der Insel Bourbon in den Jahren 1842-1845, zum anderen bietet sie fundierte Beobachtungen zu seinem literarischen Militantismus, so wie dieser ihn in seinem 1848 erschienenen Roman Schwarze und Weiße und in seiner im selben Jahr gehaltenen Berliner Vorlesung Der Kreole deutlich hervortreten lässt. Bemerkenswert ist auch, dass der perfekt Zweisprachige seinen Roman zur Sklaverei-Problematik nicht der französischen, sondern der deutschen Leserschaft präsentiert – zumal die Chronologie der deutschen Beteiligung an der Kolonialgeschichte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt. Erwähnenswert ist auch, dass im Veröffentlichungsjahr 1848 kaum deutschsprachige literarische Darstellungen von Kolonialgesellschaft und Sklaverei existieren, und das ist nicht zuletzt ein Umstand, der den Roman umso untersuchungswerter macht. Ein großer Verdienst des Aufsatzes ist der von Tolède dankenswerterweise unternommene Kontextualisierungsversuch mit durchaus erkenntnisreichen Befunden.
Der Aufsatz von Dirk Weissmann nähert sich dem literarischen Schaffen eines heute von der Literaturwissenschaft fast vergessenen Dada- und Kabarettautors der Weimarer Republik: Walter Mehring. Zuletzt hat 2013 der Kasseler Literaturprofessor Georg-Michael Schulz eine Werkbiografie Walter Mehrings geschrieben, die „so etwas wie eine literaturwissenschaftliche Wiedergutmachung sein könnte“ und die im vorliegenden Beitrag von Dirk Weissmann rezipiert wird. Ausgehend von Mehrings Kabarettkunst in den 1920er-Jahren legt der Verfasser überzeugend dar, dass der Schlüssel zum Verständnis seiner zwischen 1919 und 1924 entstandenen Gedichte und Chansons in einer gewissen Hybrid-Ästhetik zu suchen sei, die sich entlang seiner Konzepte „internationales Sprachkunstwerk“ und „Sprachen-‚Rag-time‘“ konstituiere und demonstrieren ließe. Weissmann kommt zu dem Ergebnis: Mehrings polyglotte Gedichte vereinen eine Vielzahl europäischer und amerikanischer Einflüsse von Dada bis zu Ragtime (einem Vorläufer des Jazz) in sich.
Marcel Ardeleanu widmet sich in seinem Beitrag den Übersetzungspraktiken des rumäniendeutschen Lyrikers und Übersetzers Oskar Pastior und markiert dabei verschiedene Annäherungsgrade des Zieltextes gegenüber dem Ausgangstext. Demzufolge ließe sich die übersetzungstechnische Zielgröße „Äquivalenz“ im Falle Pastiors differenziert betrachten, und zwar ausgehend von einem konventionellen, möglichst am Original nah dran bleibenden Ansatz über eine „mit-schöpfende Herangehensweise“ einerseits und provokante Übersetzung andererseits hin zum Extremfall einer gänzlich vom Original emanzipierten Übersetzung.
Am Beispiel von W.G. Sebalds Schriften untersucht Marko Pajević die wechselseitige Verknüpfung von Literatur und Krankheit sowie deren Beziehungen zur Geschichte und Gesellschaft in Folge traumatischer Erfahrung. Dabei nimmt Pajević originellerweise nicht nur Sebalds literarisches sondern auch literaturkritisches Werk, insbesondere zur österreichischen Literatur der Nachkriegszeit, unter die Lupe.
Die Studien des an der University of Nottingham lehrenden Germanisten Dirk Göttsche zur Afrika-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts dürften jedem bekannt sein, der sich mit dem neuen Afrikaroman und mit dem Fortwirken exotistischer Phantasien in der Gegenwartsliteratur beschäftigt. Sein fundamentales, 2013 bei Camden House erschienenes Buch Remembering Africa: The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature sei hier wenigstens erwähnt. Im Vordergrund des Beitrags stehen drei „untypische“ neue Afrika-Romane: Daniel Goetschs Herz aus Sand (2009), David Signers Keine Chance in Mori (2007) und Rainer Merkels Bo (2013). Der Aufsatz untersucht die Wiederkehr der kolonialen Topoi des interkulturellen Abenteuers und des Verschollenen und zeigt dabei überzeugend, dass traditionelle Afrikabilder und koloniale Topoi in diesen Texten „angesichts des kolonialen Erbes und der fortdauernden Asymmetrien in einer globalisierten Welt einer selbstreflexiven postkolonialen Diskurskritik unterzogen“ werden.
Abgeschlossen wird der Band mit dem ebenso aus dem Bereich der Postcolonial Studies stammenden Beitrag von Constant Kpao Saré, der die Literarisierung der Völkerschau in deutschsprachigen Romanen und historischen Biografien aus der Gegenwartsliteratur untersucht. Nach einleitenden Bemerkungen zu Texten von Peter Altenberg und Franz Kafka, welche die Völkerschauen literarisch bearbeiten und zugleich – so der Verfasser – eine gewisse Kolonialismuskritik an den Tag legen, widmet sich der Aufsatz ausgewählten zeitgenössischen Romanen wie Didier Daenincks Cannibale (Paris 1998, deutsche Übersetzung Reise eines Menschenfressers nach Paris, Berlin 2001), Hermann Schulz’ Auf dem Strom (1998), Christoph Hamanns Usambara (2007) und Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet (2009). Die Frage, ob und inwiefern diese Texte sich von der früheren literarischen Gestaltung der Zurschaustellung von außereuropäischen Menschen unterscheiden, beantwortet der Verfasser damit: Durch Altenbergs und Kafkas Literarisierung der sogenannten „Ausstellungsneger“ wurde zwar der Spiegel über das eigene Fehlverhalten der europäischen Öffentlichkeit vorgehalten, aber es gelang diesen Autoren oft nicht, sich von einer essentialistischen Auffassung zu distanzieren und den zur Schau gestellten Menschen eine Stimme zu geben. Die zeitgenössischen Texte hingegen seien vor dem postkolonialen Theoriehintergrund und aus einer interkulturellen Perspektive geschrieben.
Dank der Vielfalt der Beiträge wird mit der aktuellen Nummer von Recherches Germaniques eine überaus bereichernde Ausgabe vorgelegt. Ein solches Publikationsformat liefert in der Regel naturgemäß Beiträge unterschiedlicher Qualität und unterschiedlichen Gewichts. Der Berufsleser, der sich zum Beispiel für Forschungsfelder wie koloniale und postkoloniale Studien oder die Kultur der Weimarer Republik interessiert, kann in dem Band einige lesenswerte bis sehr lesenswerte Artikel finden. Auch bieten einzelne Beiträge zahlreiche Anschlussstellen für vertiefende Forschungen.