Von den Schwierigkeiten einer leichten Gattung

Thomas Kniesche legt eine neue Einführung in den Kriminalroman vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literaturwissenschaft tut sich traditionell schwer mit dem Kriminalroman – wie auch mit anderen populären oder gar „trivialen“ Genres. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass bereits einige Einführungsbände erschienen sind, die aber allesamt entweder veraltet, nicht mehr greifbar oder wissenschaftlich nicht satisfaktionsfähig sind. Als Referenzgröße anerkannt ist seit langem Peter Nussers Buch Der Kriminalroman im Metzler-Verlag, das seit seinem ersten Erscheinen 1980 mehrere Auflagen erlebte. Es bedarf in der Sache keiner Legitimation, wenn sich 2015 ein weiterer Einführungsband anschickt, das populäre Genre auf der Höhe der Forschung und mit anderen Perspektiven neu zu vermessen. Die Prognose ist nicht allzu gewagt: Kniesches Buch dürfte sich in den nächsten Jahren als Standardwerk etablieren. Das hat mit seinen Vorzügen zu tun, aber auch damit, dass es – trotz mancher Probleme – einstweilen keine aktuelle Konkurrenz hat.

Die bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Einführung in den Kriminalroman gliedert sich in fünf Teile. Nachdem das erste Kapitel das Phänomen definitorisch-begrifflich einkreist, bietet das zweite ein kurzes Resümee der Forschungsgeschichte. Dem folgt ein Abriss über einschlägige theoretische Ansätze, die bedauerlicherweise nur referiert, nicht aber auf ihre Tauglichkeit und Überzeugungskraft hin eingeordnet werden. Wenn es etwa über Richard Alewyns forschungsgeschichtlich grundlegende Arbeiten heißt, diese seien „kontrovers diskutiert“ worden, dann ist das zweifellos korrekt – welche Aspekte aber diese Kontroversen ausgelöst haben und wie diese zu bewerten sind, verrät der Autor nicht. Was nur historisch wichtig ist oder was systematisch noch immer anregend ist, bleibt bei allen vorgestellten Theorien im Dunkeln.

Den größten Anteil nimmt ein Überblick über die Gattungsgeschichte ein, wobei einmal mehr herausgestellt wird, dass es sich beim Kriminalroman um „ein spezifisch modernes Phänomen“ handelt, das sich im 19. Jahrhundert entwickelte, nachdem es im 18. Jahrhundert bedeutende Vorläufer gab. Als solche gelten insbesondere der Schauerroman der Spätaufklärung und die – viel beschworene, aber nur noch selten gelesene – von François Gayot de Pitaval herausgegebene Sammlung von Gerichtsfällen (deren moderne Form in Gestalt der Verbrechenserzählungen Ferdinand von Schirachs Kniesche an keiner Stelle erwähnt). Die Genealogie der Gattung wird weitgehend anhand der üblichen Verdächtigen skizziert – ausgehend unter anderem von E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle und Wilkie Collins über die Autoren des sogenannten „Goldenen Zeitalters“ oder die Vertreter der „hard-boiled“-Schule. Indem Kniesche die Gattungs-Ausdifferenzierung aber bis zu zeitgenössischen „Minderheiten-Detektiven und Detektivinnen“, postmodernen (Umberto Eco, Paul Auster) oder feministischen Kriminalromanen erzählt, geht er über bisherige Einführungen zum Gegenstand deutlich hinaus. Dieses historische Panorama, das mit einer Fokussierung der Entwicklung des Kriminalromans in Deutschland endet, kann zwar den einzelnen Texten aus Platzgründen kaum je Gerechtigkeit widerfahren lassen, ist aber ein gelungener Überblick für solche Leser, die sich mit der Genese der Gattung vertraut machen möchten.

Den abschließenden fünften Teil bilden Analysen „beispielhafter Kriminalromane“, von Georges Simenons Maigret und Pietr der Lette (1931) bis hin zu Andrea Maria Schenkels Tannöd von 2006. Dass über die Auswahl dieser exemplarischen Texte gestritten werden kann, versteht sich von selbst – es kann mit Recht gefragt werden, ob (herausragende!) Texte wie Jörg Fauser Der Schneemann oder Patrick Süskinds Das Parfum tatsächlich exemplarische Kriminalromane sind, oder ob unter diesem Label nicht eher (oder zumindest auch) Genreklassiker von Autorinnen und Autoren wie Dorothy Sayers, Agatha Christie, S. S. van Dine und Raymond Chandler zu erwarten gewesen wären. Tatsächlich erweckt die Auswahl den Eindruck, dass sich das eher verkrampfte und beschämte Verhältnis der Literaturwissenschaft zum Krimi hier fortsetzt: Weniger die prägenden, musterhaften Romane, die die Regeln des Genres beispielhaft umsetzten, erfahren die Ehre einer etwas ausführlicheren Beschäftigung. Vielmehr sind es bereits die innovativen Abweichungen, die mit diesen Regeln eher brechen als sie zu bestätigen – wie etwa Friedrich Dürrenmatts Der Richter und sein Henker oder Heinrich Steinfests Nervöse Fische – die als „beispielhaft“ gelten. Wenn aber das Untypische, das Abweichende, das Originelle als beispielhaft gesehen wird, schleichen sich ästhetische Wertungen ein, die einem standardisierten Erzählmodell durch die Hintertür dann doch seinen Rang und damit seine Legitimation absprechen, würdiger Gegenstand einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu sein.

Freilich: So populär wie der Kriminalroman, so heikel ist eine begriffliche Eingrenzung. Die Frage, was denn nun bitteschön eigentlich ein Krimi sei und aufgrund welcher Merkmale ein Text als Detektivroman, Verbrechenserzählung oder Thriller zu bezeichnen sei, wird seit Jahrzehnten nicht frei von Kontroversen diskutiert. Dass mit den terminologischen Klassifizierungen oft auch ästhetische und sogar weltanschauliche Wertungen verbunden wurden, macht die Lage nicht einfacher. Insofern ist es alles andere als verwunderlich, dass auch die von Kniesche verwendete Terminologie Fragen aufwirft. Das weite Feld des Kriminalromans wird hier unterteilt in Detektivromane und Thriller. Während im Detektivroman, verkürzt gesagt, die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens erzählt werde, fokussiere der Thriller die Hinführung, Ausführung und Folge des Verbrechens, wobei Spionage- und Agententhriller als Musterbeispiele genannt werden. Dass nun etwa die James-Bond-Romane von Ian Flemming einem anderen Modell folgen als Agatha Christies Romane über die Ermittlungen von Miss Marple oder Hercule Poirot, bedarf keiner weiteren Diskussion, so dass auch die Notwendigkeit einer anderen Bezeichnung evident ist. Dass aber auch Romane, die das Leben eines Verbrechers erzählen und deren analytisches, anthropologisches und emotionalisierungsstrategisches Interesse ganz anders gelagert ist als das von Spionage- und Agentengeschichten auch als „Thriller“ bezeichnet werden sollen, ist zumindest diskutabel. Kniesche operiert zwar selbst mit dem dafür passenderen Begriff der „Verbrechensliteratur“, verabschiedet diesen aber doch sehr rasch wieder. Die klassischen theoretischen Positionen, die mit diesem Begriff (oder dem etwas angestaubten Begriff der „Verbrechensdichtung“) operiert haben, werden auffällig schnell und ohne weitere Begründung als „falsch“ abgestempelt. Hier macht es sich Kniesche etwas zu einfach, was aber auch dem Format eines schlanken (und notwendigerweise vereinfachenden) Einführungsbuches geschuldet sein mag. Gleichwohl wäre an der ein oder anderen Stelle etwas mehr theoretisches Problembewusstsein wünschenswert gewesen, auch und gerade um Studierende (und damit das angepeilte Lesepublikum) dafür zu sensibilisieren, dass begriffliche und theoretische Debatten nicht nur selbstbezügliche akademische Schattenfechtereien sind.

Neben formalen Mängeln (beispielsweise im unklar gegliederten und unübersichtlichen Literaturverzeichnis) ließen sich noch mancherlei Nachfragen im Detail anbringen, was indes auch kaum ausbleiben kann bei einem Wagestück wie diesem, das auf knappem Raum eine große Menge von Aspekten, Theorien und Texten aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen verhandelt. Trotz mancher etwas laxen Auseinandersetzung mit einzelnen Texten und einer diskussionswürdigen Terminologie ist Kniesches Einführungs-Buch aber ein willkommener Beitrag zur noch längst nicht abgeschlossenen Akzeptanz des unüberschaubaren Feldes des Kriminalromans in der Literaturwissenschaft. Nicht nur, weil sich die akademische Auseinandersetzung mit Literatur, sofern sie sich selbst einen wie auch immer ideologiekritischen und gesellschaftlichen Auftrag zuschreibt, nicht gänzlich gegen Markt- und Geschmackserwartungen versperren sollte, wäre eine Ignoranz des Kriminalromans eine schlechte Idee. Dieses Genre zeigt schließlich auch wie kaum ein zweites auf, wie mit Leseerwartungen und Genrekonventionen äußerst produktiv und ästhetisch anspruchsvoll umgegangen werden kann – und dass es möglich ist, unter dem gleichen Oberbegriff Massen- und Trivialliteratur ebenso wie Avantgarde zu verhandeln. So verstanden, lassen sich ausgehend von einer Beschäftigung mit Kriminalliteratur grundlegende Fragen nach Funktionen und Macharten von Literatur stellen. Dass dieses analytische Potential noch immer teilweise ungenutzt ist, stellt ein Rätsel dar, das selbst die größten literarischen Detektive vor Probleme stellen dürfte.

Titelbild

Thomas Kniesche: Einführung in den Kriminalroman.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2015.
168 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783534267118

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