Die Religion des Meisters

Über einen neuen Sammelband zu Stefan George

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Georges Affinität zu allem Religiösen ist offenkundig groß und scheint gleichzeitig wie ein ewig ungelöstes Rätsel. Wolfgang Braungart, ausgewiesener Kenner auf dem Gebiet der mittlerweile unüberschaubar gewordenen Forschung zu Leben und Werk Stefan Georges, hat nun mit „Stefan George und die Religion“ einen Tagungsband herausgegeben, der sich dem „Religionsproblem“ im und um den George-Kreis widmet. Beleuchtet werden dabei zahlreiche religiöse, esoterische und neopagane Phänomene um 1900. Der Forschungsband setzt gewissermaßen die Tradition fort, die mit der  Binger George-Tagung des Jahres 1998 eröffnet wurde, bei der es um Aspekte von Georges Lyrikband Der siebente Ring ging. „Sein Werk, besonders das seit dem ‚Siebenten Ring‘, dringt oft so weit in das Rhetorische, in Kritik und Verwerfung, in schärfste Polemik und apokalyptische Prophetie vor, dass die Freiheit der Poesie in Bedrängnis gerät“, schreibt Braungart in seinem eigenen Beitrag, der sich der Frage stellt, ob und wie Mythen gemacht werden können. Braungart möchte erforschen, was sie in ihrer Gemachtheit leisten können oder ob sie nicht in einem „nicht leicht genau rekonstruierbaren, geschichtlich-kulturellen Diskursgeschehen gleichsam von selbst entstehen“.

Folgerichtig wenden sich im Anschluss an Jürgen Brokoffs Einführung zu den Themen „Prophetie und Erlösung in Stefan Georges Lyrik nach 1900“ und seine Analyse des Geisterseherdiskurses Lothar van Laak und Georg Dörr dem von George geschaffenen Maximin-Kult zu. Die Verklärung des Jungen Maximilian Kronberger zum Gott ragt, als eine vom Meister geschaffene und gestiftete Religion, auch heute noch aus Georges Werk heraus. Van Laak deutet Maximin als religiöses Medium, das von seinem Boten, dem Dichter, überhaupt erst als Gott hervorgebracht werde; Dörr hingegen bezieht sich auf Aspekte der Bricolage in Stefan Georges neopaganer Maximin-Religion, indem er zeigt, dass durch die ständige Fortzeugung geeigneter Jünglinge, die im Männerbund vermutlich Einfluss auf die Geschicke der Welt nehmen sollen, eine intramundane Eschatologie gewährleistet werde.

Insgesamt bietet der Band eine Fülle von neuen Forschungsansätzen und von Beiträgen, die wiederum an die bereits bestehende Forschungstradition anschließen. So widmet sich Uwe Spörl der „[g]ottlose[n] Mystik und Georges poetische[r] Religion“, Wouter J. Hanegraaff schreibt über die Befreiung der Weisheit von der katholischen Kruste (George gewissermaßen als Katholik ohne Christentum), Justus H. Ulbricht („Apollo lehnt geheim an Baldur. Oder: Der Dichter ruft die Götter auf“) verdeutlicht die von George aufgegriffene Linie des Neopaganen, und Uwe Puschner („Rasse und Religion. Die Ideologie arteigener Religionsentwürfe“) zeigt, wie sich der Diskurs um den Rassebegriff mit der Religion verschränkt. Der langjährige George-Spezialist Richard Faber („Der Ästhetizist Algabal, der politisch-religiöse Dichter Stefan George und das Problem seines Präfaschismus“), der bereits 1994 das Buch „Männerrunde mit Gräfin. Die ‚Kosmiker‘ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow“ publizierte, widmet sich seinerseits Georges komplexer Ideologie und hebt hervor, dass der Autor unter dem Tod Kronbergers ungemein gelitten und dies nur durch die Apotheose überwunden habe, indem er diesen „als Maximin zum Mittelpunkt eines neuen, allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Kultes machte“. Volkhard Krech hingegen zeigt in seinem insbesondere auf das Verhältnis von Georges Kunstreligion und Georg Simmels Religionstheorie eingehenden Aufsatz weitergehende Bezüge von Georges Lyrik auf.

Besonders hervorhebenswert ist der Aufsatz von Jan Stottmeister, der bereits in seiner 2014 erschienenen Dissertation Der George-Kreis und die Theosophie auf die Verbindung von Anthroposophie und George-Kreis hingewiesen hat. Auch in seinem im vorliegenden Sammelband enthaltenen Text ‚Richtlinien‘ gegen Rudolf Steiner. Theosophie-Kritik als Wissenschaftskritik im George-Kreis um 1910 geht er ausführlich auf Melchior Lechter, den Künstler, der dem George-Kreis nahe stand, und seine Lektüre von Helena Blavatskys Geheimlehre ein; dieser „wurde unter dem Eindruck dieser Lektüre ein derart überzeugter Theosoph, dass er in seiner Berliner Atelierwohnung ein Porträt Blavatskys in Lebensgröße aufhängte.“ Stottmeister verdeutlicht, wie sehr Einflüsse solcher esoterischer Strömungen direkt auf Einzelne des Kreises gewirkt haben. Besonders interessant ist auch, dass der George-Jünger Friedrich Wolters streckenweise davon ausging, „dass die menschliche Geistesgeschichte eine Geschichte esoterischer Gruppierungen ist. Diese Annahme teilt Wolters mit den ‚Theosophen‘ und den von ihnen rezipierten okkultistischen und arkangesellschaftlichen Traditionen.“ In Stottmeisters eingehender Analyse kommt er auf Rudolf Steiners Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? zu sprechen, die eine ähnlich kulturkritische Diktion aufweist wie diejenige Wolters‘ in seinem im Dezember 1909 erschienenen Traktat Herrschaft und Dienst, einem Manifest des künftigen George-„Staats“. Gerade diese okkulte Seite des Männerbundes um Stefan George bietet noch interessante Anschlusspunkte für weitere Betrachtungen zu dem Problem, wie der Autor sich zur Religion verhielt, man denke nur an das mythopoetische Großwerk eines Ludwig Derleth.

Schließlich sei noch auf die Beiträge von Christoph Auffarth und Almut-Barbara Renger hingewiesen. Auffarth entschlüsselt den Komplex „Das ‚Dritte Reich‘ – das ‚Geheime Deutschland‘“ und setzt durch die durchnummerierte Struktur seines Aufsatzes eine Thesenkaskade in Gang, die sich auf ganz eigentümliche Weise selbst wie ein poetisches Rätsel lesen lässt. Almut-Barbara Renger zeigt hingegen, wie sich mittels der zeitgenössischen Konjunktur des Begriffs des „Meisters“ George im Spiegel religions- und wissenssoziologischer Studien seiner Zeit betrachten lässt.

Einen besonderen Höhepunkt dieses Sammelbandes bildet natürlich die nun gedruckte Rede Stefan Georges Religion von Martin Mosebach, der wie kaum ein anderer deutschsprachiger Gegenwartsautor das Religiöse zu einem zentralen Bezugspunkt seines essayistischen Werkes macht, dieses aber nicht für sein Romanwerk funktionalisiert. Mosebachs Vortrag wird solide eingeführt von Bertram Schefold und konkretisiert Überlegungen, die Mosebach bereits in seinem bekannten Essayband Häresie der Formlosigkeit in vielfacher Weise dargelegt hatte. So spricht er auch in seiner Rede von einer Gnade der frühen Geburt „deutlich vor dem II. Vatikanischen Konzil, nach dem die Weltkulturrevolution von 1968 auch in die innersten Bezirke der katholischen Kirche eindrang und mit ihrem Flachsinn erreichte, was die geistig unendlich gewichtigeren Revolutionen von 1789, 1848 und 1917 nicht erreicht hatten“. Zudem unterstreicht er wiederum als Quelle des Glaubens – die auch George selbstredend gekannt und vielfach erfahren hat – den traditionellen katholischen Messritus, „der unverändert seit der Spätantike durch die Geschichte in die Gegenwart gewandert war.“ Auch Mosebach spricht den bei George eigentümlichen Übergang vom Katholizismus zu einem neopaganen Heidentum an sowie die spezielle Konsequenz, dass sich George den Glauben selbst habe schaffen müssen. „Es war George klar“, schreibt Mosebach: „Um als Dichter vor dem Maßstab der Jahrtausende bestehen zu können, musste er Anteil haben am Sehertum der großen Dichter der Vergangenheit, an ihrem unmittelbaren Umgang mit Musen und Göttern.“

Der Sammelband Stefan George und die Religion umreißt in vielen Ansätzen ein ganzes literaturwissenschaftliches Forschungsfeld, liefert viele Anregungen für die Zukunft und ist eine große Anregung, zu George selbst, zu Der Stern des Bundes oder Das neue Reich, zu greifen.

Titelbild

Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion.
De Gruyter, Berlin 2015.
255 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783110440065

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