Jedem sein eigener (Nah)Tod
In „Die dunkle Nacht der Seele“ konfrontiert Hans Peter Duerr seine Leser mit den Träumen vieler Geisterseher
Von Veit Justus Rollmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNahtod-Erfahrungen und sogenannte Seelenreisen sind in vielfacher Hinsicht Grenzerfahrungen. Sie ereignen sich in einem Grenzbereich der Verbundenheit mit dem eigenen Körper, sofern man darunter einen physischen, physikalischen Gesetzen gehorchenden Gegenstand versteht; sie heben die Grenzen von Raum und Zeit in gewisser Weise auf, indem Abstände und Verläufe innerhalb dieser Grundformen menschlicher Erfahrung relativ werden und sie bringen den, der sie erlebt, an immer neue Grenzen, bis schließlich eine vorerst letzte Grenze erreicht wird, deren Überschreiten irreversibel ist und die mithin die Differenz von Nahtod und Tod markiert. Ob mit letzterem das Ende jeder Erfahrung gemeint ist, muss offenbleiben, denn wer hier weiter voran schreitet, muss eine Straße gehen, die – wie es in einem der Schubert‘schen Lieder heißt – noch keiner zurückging, weshalb auch keiner von dem dort Geschauten zu berichten vermag.
In Hans Peter Duerrs neuestem Buch Die dunkle Nacht der Seele berichten hingegen viele. Die immense Anstrengung, die der Autor beim Aufsuchen und Zusammentragen von Erfahrungsberichten über Nahtod und das Verlassen des eigenen Körpers unternommen hat, lässt berechtigte Zweifel an der Existenz eines Werkes aufkommen, das dieses Thema noch umfassender und erschöpfender behandelt. Tatsächlich erschöpft die Art der Behandlung an vielen Stellen auch den Leser. Wenn sich der wissenschaftliche Wert eines Buches an der Zahl der Anmerkungen bemisst, legt Duerr die Messlatte sehr hoch. Von den insgesamt 688 Druckseiten enthalten rund 300 Quellenangaben und Literatur. Gerade aufgrund des immensen Reichtums an Quellen stört bisweilen, dass Duerr eher sparsam mit Fußnoten umgeht und dies ist ein erstes Beispiel für das Potential des Buches, den Leser zu erschöpfen. In einem Abschnitt von rund einer Druckseite treten „viele Nahtodforscher“, „zwei Ethnologen“, „eine Frau der […] Samburu“, „ein Engländer“ und „ein Psychiater“ auf und es ist der über jeden Zweifel erhabenen Gewissenhaftigkeit des Autors im Anführen seiner Quellen zu verdanken, dass noch weit mehr Namen und Stellen in der einen zugehörigen Anmerkung aufgelistet werden. Wer nun aber wer ist, muss sich der geneigte Leser selbst zusammenreimen, beziehungsweise, wenn er es ganz genau ermitteln möchte, die Stellen nachschlagen. Auch dies ist kein leichtes Unterfangen, denn Duerr hat auf seiner Reise ad fontes wahrscheinlich jede erreichbare Sammlung ethnologischer, religions- oder auch parapsychologischer Schilderungen durchgesehen.
Die Erfahrungen, deren Schilderungen Duerr bündelt, sind ungeachtet ihrer Vielfalt klar von scheinbar ähnlichen Bereichen des Erlebens abgegrenzt. Nahtod und Seelenreise sind in ihrer qualitativen Bestimmtheit weder mit dem Traum noch mit dem durch Einnahme psychoaktiver Substanzen hervorgerufenen Rauschzuständen und Halluzinationen vergleichbar. Sie erscheinen als komplexe Halluzinationen, deren Erlebnis einzigartig und mit telepathischen und hellseherischen Elementen durchsetzt ist. Dies ist eine Grundthese Duerrs, die sich vom Klappentext durch den gesamten Inhalt zieht und die durch den Reichtum der Berichte belegt werden soll. Ob dies gelingt bleibt fraglich, was sich auch daran zeigt, dass eigenes Erleben des Autors und mithin ein nicht falsifizierbares, subjektives Geschehen ergänzend herangezogen wird. Sein Verlassen des eigenen Körpers, dessen Schilderung der Prolog des Buches beinhaltet, charakterisiert der Autor als etwas, das ihn „fasziniert, aber auch fassungslos“ machte, da er „trotz aller Drogen- und ähnlichen Erfahrungen etwas Derartiges nicht für möglich gehalten hätte“.
Die Schilderung einer Nahtod-Erfahrung ist eine Lebensbeschreibung in einer extremen, grenzwertigen Situation und so unterschiedlich und kulturspezifisch sie sich auch präsentieren mögen, sind ihnen bestimmte Momente gemein, die eine Unterteilung des Stoffes erlauben. Duerrs Kapitel handeln von bekannten Motiven wie dem Tunnel, dem Licht und der Finsternis und dem Jenseits des Tunnels. Sie behandeln den Kultus und dessen extatische und visionäre Momente und schlagen über Abschnitte zu psychoaktiven Substanzen den Bogen hin zu einem letzten Anhang, in dem die Frage nach der Berechtigung einer menschlichen Sehnsucht nach Unsterblichkeit, einer gleichsam anthropologischen Grundkonstante, geschlagen wird. Die Nahtod Erfahrung bewirkt laut Duerr, dass in vielen Fällen an die Stelle der Furcht vor dem Lebensende die Überzeugung tritt, dass es ein solches Ende im Sinne eines absoluten Todes schlicht nicht gebe.
Manche der Erlebnisberichte und Erzählungen, von denen die Dunkle Nacht der Seele sicherlich Tausende beinhaltet, sind erschreckend banal und lassen Rückschlüsse auf den geistigen Horizont des jeweiligen Berichterstatters zu; etwa wenn der vermeintlich Verstorbene Gott beim Baden stört und in rüpelhafter Manier ins Leben zurückgescheucht wird. Andere sind von haarsträubender Absurdität: Etwa wenn Mitglieder des Stammes der südostaustralischen Wiradjeri an den fernen Ort jenseits des Meeres namens Kating-ngari gelangen, „indem sie – ähnlich wie Spiderman – aus ihren Hoden eine ‚bu:ru‘ maulwa-Schnur schossen, an der entlang sie spinnengleich ans Ziel kletterten“ oder wenn „von der Welt der Hexen und Geister (ro-soki)“ als von „einer großen Stadt mit Palästen aus Gold und Edelsteinen“ gesprochen wird, „deren Bewohner Mercedes fuhren und „beefsticka“ aus Menschenfleisch aßen“. Sie alle geben hinsichtlich der Frage aus William Shakespeares Hamlet, was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, eine erste Antwort: Alles irgend Denkbare kann Bestandteil der komplexen Halluzinationen sein, die wir als Nahtoderfahrung oder Jenseitsreise bezeichnen. Ob diese Erfahrungen jenen ähneln, die wir nach dem Überschreiten der letzten Grenze hin zur Irreversibilität des Todes haben, oder von diesen grundverschieden sind, wird im Diesseits niemals geklärt werden können. Es ist keine Eigenart Duerrs, sondern ein Proprium der Kulturwissenschaft, dass die kulturell tradierten Zeugnisse weitgehend unkritisch zusammengestellt werden. Irgendwer hat irgendetwas gesehen (oder meint gesehen zu haben) und hat es mittels der Kulturtechnik des Schreibens weitergegeben oder nach langer mündlicher Tradition von einem Sammler weitergeben lassen. Da es um in besonderem Maße subjektive Erlebnisberichte geht, mangelt es an Wahrheitskriterien. Vorausgesetzte Wahrhaftigkeit sichert die Teilnahme am Diskurs.
In der schier endlosen Reihung der Erzählungen finden sich in nahezu jedem Abschnitt des Buches immer wieder Stellen, die den Leser faszinieren. Kein physiologischer oder psychologischer Aspekt bleibt unbeleuchtet und Duerrs Analysen versprechen dem an der Thematik interessierten Leser nachhaltigen Erkenntnisgewinn. Ärgerlich erscheint vor diesem Hintergrund – zumindest aus der Sicht des gläubigen und leidlich Bibelfesten Lesers – hingegen eine offenkundige Fehlinterpretationen. So wird der Lanzenstich in den Leib Jesu am Kreuz, der als sicheres Todeszeichen dafür sorgt, dass man dem Gekreuzigten im Unterschied zu den beiden Schächern nicht die Beine zerschlägt, um ihr Sterben zu beschleunigen, vom signum mortis in einen coup-de-grâce umgedeutet. Dies ist jedoch ein Einzelfall, der den Gesamteindruck nicht nachhaltig zu schmälern vermag.
In einem Gedicht von Rainer Maria Rilke wird der Wunsch geäußert, Gott möge jedem seinen eigenen, zu seinem Leben passenden Tod gewähren. Die Schilderungen, die Duerrs Buch bündelt, lassen erkennen, dass dieser Wunsch zumindest für den Bereich des sogenannten Nahtodes in Erfüllung geht.
Duerrs Die dunkle Nacht der Seele bietet allen, die sich ein umfassendes Bild zu Nahtod-Erfahrungen und sogenannten Seelenreisen machen wollen, eine Materialsammlung, die ihresgleichen sucht. Das Machen bleibt jedoch in weiten Teilen dem Leser selbst überlassen.