Still stehend, lauschend dem Gesang der Vögel

Yoko Ogawa spinnt eine feinfühlige, unprätentiöse Lebensgeschichte

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yoko Ogawas Roman beginnt mit einem Ende. Dem Ende eines Menschenlebens, dem Ende ihrer Titelfigur, des Herrn der kleinen Vögel. Nur die wenigsten unter denen, die mit seinem Tod befasst sind, kennen ihn oder die Bedeutung seines Namens. „Kotori“, wurde der alte Mann genannt, „der Herr der kleinen Vögel“. Dem unscheinbaren Vögelchen, das er zuletzt gesund pflegte, hatte er diesen Namen indes nicht zu verdanken. Dem Zufall allerdings auch nicht. Vielmehr dem Schicksal, gewissermaßen. Denn Singvögel und deren Gesang ziehen sich als das Leitmotiv durch sein gesamtes Leben.

Etabliert wird dieses Motiv durch den geliebten älteren Bruder. Dieser verlernt auf seltsame Weise im Alter von elf Jahren die menschliche Sprache, spricht fortan nur noch in der Sprache der Vögel. Die Eltern sind hilflos und verwirrt, während sich die Wissenschaft für das Phänomen nicht weiter interessiert. Allein der jüngere Bruder versteht ihn, wiewohl er den Grund dafür nicht kennt. Fortan sind die Geschwister unzertrennlich, weichen einander auch als Erwachsene nicht von der Seite. Gemeinsam führen sie ein genügsames, weitgehend von ihrer Umwelt abgeschottetes Leben, das mühelos einen kunstvollen Spagat schafft: streng reglementiert und ritualisiert zu sein und doch zugleich fantasievoll-magisch durchwirkt. Durchtränkt von der Faszination für das Wesen und den Gesang der Singvögel.

Die Idylle ist fragil, denn der ältere Bruder stirbt schließlich bei einem Lieblingsritual, dem Besuch der Vogelvoliere des städtischen Kindergartens. Um die aufgebrachten Singvögel zu beruhigen, betraut man schließlich den jüngeren Bruder mit ihrer Pflege. Und so gewissenhaft widmet sich dieser fortan seinen gefiederten Schützlingen, dass er bald nur noch als Kotori bekannt ist, der Herr der kleinen Vögel. Und er führt es fort, sein stilles, menschenscheues Dasein. Denn wirkliche Zäsuren gibt es in seinem Leben nicht, ebenso wenig Umbrüche, Konflikte, Höhepunkte oder Spannungsbögen im eigentlichen Sinn.

Natürlich ereignen sich Dinge im Leben des Protagonisten, freudige wie traurige, erheiternde wie beunruhigende. Doch nie haben die Geschehnisse eine nachhaltig aufwühlende Wirkung. Was dem Kotori auch zustößt, es verändert die eigentliche Ausrichtung seines Lebens nicht, überdeckt nie das zarte Leitmotiv der kleinen Vögel. Es ist ein einfaches, mancher mag sagen belangloses Leben, dem sich die Autorin hier angenommen hat. Doch Ogawa besitzt das Geschick, aus einfachen Fäden, dem Alltäglichen und Unprätentiösen, einen filigranen und faszinierenden Erzählteppich zu weben, ein klares und doch letztlich geheimnisvolles, melancholisches und doch schwebend leichtes Bildnis eines Lebens zu wirken. Und der Rest ist nicht Schweigen – sondern Vogelgesang.

Titelbild

Yoko Ogawa: Der Herr der kleinen Vögel. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2015.
272 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783954380503

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