Mit halb geschlossenen Augen sieht man besser

Gernot Böhme legt eine überzeugende kulturwissenschaftliche Analyse unterschiedlicher Bewusstseinsformen vor und rechnet mit den Leerstellen der europäischen Philosophie ab

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Folgt man dem bisherigen Dogma der europäischen Philosophie, so wird jegliches Bewusstsein als ein traditionell reflexives und intentionales verstanden, bezeichnet also einen Geisteszustand, der – sich seiner selbst und des Anderen bewusst – auf etwas gerichtet ist. In der westlichen Bewusstseinsphilosophie wurde der Leib als Teil des Bewusstseins jedoch lange Zeit thematisch unterschlagen. Gernot Böhme durchbricht dieses Manko nun, indem er in seiner neusten Veröffentlichung mit dem Titel Bewusstseinsformen die vielfache Ausprägung möglicher Bewusstseinsformen wie etwa Präsenz-, Zeit-, Gegenstands-, Leib-, Selbst- und „leeres“ Bewusstsein aus einem kulturwissenschaftlich vergleichenden Blick heraus einzugrenzen versucht.  Er richtet sich hierbei vor dem Hintergrund von Meditationserfahrungen des Zazen kritisch gegen abendländische Verengungen der Auffassungen von Bewusstsein, hauptsächlich aber gegen die Auffassung, Bewusstsein sei lediglich objektivierend, das heißt gegenstandsgerichtet.

Gerade die Möglichkeit, sich aus der Involviertheit in die Welt zu lösen – hinein in das Sehen von nichts als Helle durch die letzte schmale Öffnung der Augenlider – bietet ganz andere Potenziale, Bewusstseinsformen zu erfahren. Bewusstsein ist in diesem Verständnis nicht nur Denken, es ist gleichsam Tätigkeit: „Wir erzeugen als Organismen, als Lebewesen ständig unsere eigene Zeit. Atmend sind wir diese Zeit. Dies ist unsere elementare Weise zu sein.“ Die leere, nichtreflexive Bewusstheit könnte, so die Formulierung, ein „Urphänomen“ der oben genannten ausdifferenzierten Bewusstseinsformen sein und sollte nicht nur rein theoretisch – wie es die europäische Philosophie gewohnt ist –, sondern auch praktisch begriffen werden. Husserls Auffassung des Bewusstseins als Fluss mit den zeitlichen Phänomenen Retention und Prätention stellt Böhme seine eigenen, feinfühligen historischen sowie literaturwissenschaftlichen Interpretationen zu Sokrates, Sören Kierkegaard, Augustinus, Adam Bernd, Jean-Jacques Rousseau, Albert Camus bis hin zu modernen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus verschiedenen Kulturkreisen gegenüber. Dass Böhme ganz klar Edmund Husserls universalistische phänomenologische Auffassung sowie dessen Rückführung der Einheit des Gegenstandes auf die Identität des Bewusstseins ablehnt, erklärt sich von selbst.

Obwohl es sich bei Böhmes Veröffentlichung um eine sowohl voraussetzungsreiche philosophische Auseinandersetzung mit dem Erscheinen des inneren Menschen in der Bekenntnisliteratur handelt als auch um eine wissenschaftstheoretische Analyse gewöhnlicher Zugänge zu Bewusstseinsbegriffen, sind die Ausführungen des Autors durchgängig ansprechend formuliert und bedienen sich an angemessener Stelle zahlreicher Beispiele zur Veranschaulichung der Thesen. Keine Information ist redundant, vielmehr fängt Böhme das Interesse des Lesers durch eingängige Darlegungen und ergiebige Argumentationen ein. Nachdem er zu Beginn das Leib-Seele-Problem in der Nachfolge René Descartes’ und dessen problematische definitorische Implikationen beleuchtet, präsentiert er die fundamentalsten Prämissen in Neurowissenschaft und Philosophy of Mind, deren jeweilige vermeintliche Meilensteine jedoch auch strittige Grundthesen transportieren und auf nicht immer hinreichenden Methoden zum Erkenntnisgewinn beruhen, die unhinterfragt in allgemeine Vorstellungen des Bewusstseins kulminieren.

Die im reinsten Sinne des Wortes bedenkliche Mentalitätsgeschichte Europas sieht Böhme – mit wissenschaftstheoretischen Einschränkungen – in Sokrates als Prototyp derselben verkörpert. In seinem ersten Kapitel nimmt der Autor anhand literarischer Figuren eine Kategorisierung europäischer Bewusstseinstypen vor. Er zieht also aus literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen Schlüsse für seinen philosophischen Standpunkt, was er selbst durchaus problematisiert, allerdings Rechtfertigung darin findet, dass fast alle literarischen Beispiele wie etwa Plantons Dialog Alkibiades I, Kierkegaards Tagebuch des Verführers, Heinrich von Kleists Essay Über das Marionettentheater oder auch Camus’ Sisyphos explizit als Teil der Entwicklung der europäischen Bewusstseinsphilosophie zu betrachten sind. In Romanen von Nathalie Sarraute ließe sich, so Böhmes Beobachtung, beispielsweise ausgezeichnet nachweisen, „worin das empirische Bewusstsein, von dem Kant sagt, es sei an sich zerstreut, worin der Bewusstseinsstrom nach Husserl besteht“.

Böhme hegt eine klare Präferenz für Hermann Schmitz, einem zeitgenössischen Nachfolger Husserls in leiborientierter Phänomenologie, doch es werden auch die Vorzüge und Kritikpunkte an einer Kant’schen Begründung objektiver Erkenntnis dargelegt. Gegen die Reflexionstheorie des Bewusstseins und Selbstbewusstseins, als deren Vertreter Kant nichtsdestotrotz gesehen werden darf, wendet sich Böhme hauptsächlich im Kapitel „Bewusstsein als Reflexion“. Insbesondere ist hier die ausführliche Darstellung der These, dass die Reflexionstheorie per se zirkulär sei, weil sie im reflektierten Objekt zugleich schon voraussetze, was die Reflexion gleichzeitig begründen will, hervorzuheben. Es bleibt zu fragen, inwiefern diese Kritik wiederum zirkelhaft bleibt, da hier kein klarer Reflexionsbegriff – allenfalls ein Begriff, der Reflexion fatalerweise als nachträglich versteht – vorherrscht. Bereits Johannes Heinrichs, deutscher Semiotiker und Philosoph, hat 1976 in „Reflexion als soziales System“ diese kritischen bis skeptischen Überlegungen geäußert und Böhmes Bewusstseinsformen kurz nach Erscheinen dementsprechend rezensiert. Hier ist allerdings auch anzumerken, dass Heinrichs Philosophie als kontinuierliche Selbstentfaltung einer methodischen Reflexion sieht, die gleichzeitig Inhalt und Form des Denkens ist. Nachdenken im Sinne des Wortes „Nachdenken“, also nachträglich-theoretische Reflexion auf der Ebene der Form, und Selbstbezüglichkeit als Bewusstseinsleben auf der Ebene des Inhalts wirken dabei zusammen. Die Aufgabe der theoretischen Reflexion bestünde nach Heinrichs darin, letzteres nachträglich zu rekonstruieren. Auf Grundlage dieser Differenzen im Bewusstseinsbegriff scheint Heinrichs Kritik insgesamt angebracht. Es ist zudem nicht eindeutig, weshalb Böhme ausgehend von einer reflexionstheoretischen Analyse gerade die ausdrücklich-theoretische Reflexion kritisiert, die rein objektivierend ist. Widerspruchsfrei ist die Veröffentlichung damit nicht, was allerdings auf 222 Seiten, auf denen die vielleicht größte Frage der Menschheit angestoßen wird, ohnehin verwunderlich wäre.

Dennoch gewährt der Band durchaus neue Einsichten: Besonders interessante Umdeutungen gängiger literatur- und kulturwissenschaftlicher Begriffe tragen dem Eindruck Rechnung, dass das Werk in seiner Gesamtheit eine Sonderstellung in der zeitgenössischen Bewusstseinsphilosophie genießen sollte. Der Flaneur als ästhetische Existenz zum Beispiel ist bei Böhme gerade nicht  gleichzusetzen mit dem literarischen Spaziergängertypus der modernen europäischen Literatur, sondern wird stattdessen exemplarisch anhand des Graskissen-Buchs von Natsume Sōseki, einer berühmten japanischen Schriftstellerin der Meiji-Zeit, betrachtet. Einer Akzentverschiebung weg von der typisch europäischen Betrachtung des Flaneurs von außen hin zu einer möglichen „Innerlichkeit“ und anderen Bewusstseinslagen wird damit aus literaturwissenschaftlicher Sicht ideal ermöglicht.

Der Autor scheut sich hier keineswegs, auch allgemein anerkannte, einflussreiche und psychoanalytisch etablierte Theorien zu Selbstbewusstsein und Bewusstseinsentwicklung radikal infrage zu stellen. So traut Böhme sich, Jacques Lacans Rede vom Spiegelstadium nicht nur umzudeuten und neu zu kontextualisieren, sondern vielmehr im Vergleich zu kritisieren. Er zieht an dieser Stelle Platons Dialog Alkibiades I heran, um die Frage der Selbsterkenntis und Ich-Genese auszuweiten und gleichzeitig einen frühen Punkt der europäischen Philosophie mit dem zeitlich näher an der Gegenwart liegenden Lacan zu verknüpfen. Der Autor springt gekonnt durch die Epochen, ohne solche zu nennen, und verliert sich nicht in den fließenden Übergängen wechselnder philosophischer Gedankengebäude. Man kann Böhme zudem einen äußerst differenzierten Umgang mit Begriffen selbst anrechnen: Kein Wort ist ohne Bedacht gewählt, schon der Titel des Buchs ist eine These, und auch alltäglichen Wörtern wie „Aufenthalt“ und „Wirklichkeit“ schenkt Böhme berechtige, etymologisch und philosophisch gleichermaßen ausgefeilte Aufmerksamkeit.

Nicht nur die Auflösung eines westeuropäischen philosophischen Dogmas macht den Ansatz so aktuell. Auch der Umgang mit dem Material ist souverän: So spricht Böhme mitunter fragwürdige Gender-Aspekte bei Kierkegaard und Konsorten an – mal ganz ernst, mal mit einem Schmunzeln in einer Nebenbemerkung –, und schafft es, einen tänzerischen Übergang zwischen den einzelnen Theoriegebäuden herzustellen, ohne in einen populärwissenschaftlichen Ton zu verfallen. Auch das zeitgenössische Leben in und durch Medien, die fehlende Gegenwärtigkeit des durchschnittlichen Alltagsbewusstseins und die Unmöglichkeit des permanenten Bewusstseins des eigenen In-der-Welt-Seins geraten in die Kritik. In Zeiten von Internet und Reizüberflutung verändert sich nicht nur das Bewusstsein, sondern auch der Bewusstseinsbegriff eines jeden. Das Gewahrwerden der eigenen ephemeren Existenz: Das bezeichnet Böhme als Präsenzbewusstsein. Ein einprägsames Beispiel für fehlendes Präsenzbewusstsein ist etwa die Tatsache, dass ein Urlaub selten noch ohne Fotokamera stattfinden kann. Im Kontext älterer Monographien zeigt sich auch, dass Böhme seine Theorien nicht nur in neuen Themenbereichen wiederholt, sondern gezielt weiterdenkt. Seine Veröffentlichungen Ich-Selbst, Ästhetik, Theorie des Bildes und Architektur der Atmosphäre gehen eine eingängige Symbiose mit „Bewusstseinsformen“ ein und bilden ein in sich geschlossenes System. Die genannten ästhetischen Studien, die wesentliche Impulse von Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty aufnahmen, sich auch auf Schmitz beziehen und die Böhme eine „Ästhetik der Atmosphäre“ nennt, gehen von einer phänomenologischen Anthropologie aus, welche die Situiertheit des leiblichen Sinneswesens, das der Mensch ist, in den jeweiligen Kontext eingebunden betrachtet. In Bewusstseinsformen nimmt Böhme nun auch den Versuch vor, Bewusstsein in Abhängigkeit von Erfahrung und Umgebung kulturwissenschaftlich vergleichend zu analysieren. Kulturwissenschaft ist hier jedoch vor allem Literaturwissenschaft, was insgesamt etwas reduktionistisch erscheinen mag.

Das letzte Kapitel ist darüber hinaus sehr knapp gehalten und definiert mystisches Bewusstsein – das doch eigentlich der Kulminationspunkt des Werkes sein und daher herausgehobene  Erörterung finden sollte – kurz als „Einheit mit dem, was ich nicht bin und das mir fremd ist“. Dieses mystische Bewusstsein oder die mystische Erfahrung als pathisches Ereignis habe, so der Autor, „Verwandtschaft“ mit Präsenz- und reinem Bewusstsein. Was unter dieser Verwandtschaft zu verstehen ist und weshalb Böhme hier von seiner ansonsten sehr klaren Sprache in diffuse Definitionsversuche abrutscht, bleibt unklar. Beginnt das Kapitel noch mit einer gewohnt nachvollziehbaren Erläuterung des Begriffs „Mystik“ und einigen Beispielen sowohl direkt aus Texten bekannter Mystiker wie auch aus der zeitgenössischen Literatur, etwa Christian Krachts Faserland, so verliert sich das Kapitel zum Ende hin sehr schnell, fast als habe Böhme keine Zeit mehr zum Schreiben gehabt.

Gerade weil es so eine Freude bereitet, große Werke der Literatur und Philosophie mit Böhmes Augen zu lesen und nachzuvollziehen, ist es umso beklagenswerter, dass für Themen wie „Mystik und Liebe“ nur wenige Seiten bleiben, bei denen man am Ende das Gefühl hat, der Autor hätte mitten in der Überlegung aufgehört zu schreiben. Die wertvolle These, dass mystisches Bewusstsein nicht in der Bemühung um selbiges erzwungenermaßen herbeiführbar ist, wird, obwohl sie sich doch auf die Überlegungen aller voriger Kapitel stützt, kaum weiter ausgeführt. Ein runder Abschluss wäre wünschenswert gewesen – trotz dieses Mangels handelt es sich bei Bewusstseinsformen um ein mehr als lehrreiches, für Leser mit philosophischer Vorbildung anregendes Buch, das wertvolle neue Akzente in der zeitgenössischen Bewusstseinsphilosophie setzt und als eines der wenigen aktuellen Werke, die sich mit Bewusstseinsfragen beschäftigt, ohne bunte MRT-Schnittbildchen des menschlichen Gehirns auskommt.

Titelbild

Gernot Böhme: Bewusstseinsformen.
Wilhelm Fink Verlag, München 2013.
222 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770555307

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