Der Hass blieb im Bataclan
Antoine Leiris verlor seine Frau bei den Terroranschlägen in Paris im November 2015, jetzt berichtet er über dieses Erlebnis in „Meinen Hass bekommt ihr nicht“
Von Ana Elisa Gomez Laris
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHélène Muyal-Leiris wurde im Bataclan-Theater ermordet. Sie war eine der 130 Menschen, die an jenem Unglücksabend in Paris ums Leben kamen.
Zwei Tage nach dem Verlust seiner Frau schreibt Antoine Leiris einen Brief an die Terroristen. Diesen veröffentlicht er auf Facebook, mit der Absicht seine Familie und Freunde zu erreichen, doch wie so oft in sozialen Netzwerken verbreitet er sich wie von selbst und erreicht in kürzester Zeit Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Doch wieso Leirisʼ Brief? Leiris bestand darauf, seinen Hass nicht an die Terroristen zu verschwenden. In dem Brief schrieb der Radio Journalist aus Paris: „Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen….Auf den Hass mit Wut zu Antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugehen, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid.“ Genau dieser Brief ist jetzt Teil seines Buches über sein Leben und das seines damals 17 Monate alten Sohnes, direkt nach dem Tod Hélènes.
In Meinen Hass bekommt ihr nicht geht es nicht um den Terroranschlag, sein Erlebnisprotokoll handelt stattdessen von dem Kampf, ein Mensch zu bleiben und die Hoffnung nicht aufzugeben, wenn die Welt untergeht— oder besser gesagt, von Terrorismus gebeutelt wird. Wer gerne erfahren möchte, wie genau Hélène gestorben ist oder wie Leiris aufgehört hat der Welt zu vertrauen, wird hier enttäuscht. Mit seinem Brief ließ er die Welt an seinen Gefühlen nach dem Attentat teilhaben, mit seinem Buch ermöglicht er ihnen, ihn besser zu verstehen.Meinen Hass bekommt ihr nicht istein Bericht über die zwei Wochen nach den Terroranschlägen. Der Leser erfährt, was sich im Kopf Leirisʼ abspielt, als er von Hélènes Tod erfährt. Der Mann hat die Liebe seines Lebens verloren, doch er muss weiter kämpfen. Sehr schnell versteht er jedoch, dass sein Sohn Melvil ihn noch ein Leben lang brauchen wird.
Tägliche Rituale mit Melvil wie Abendessen, Baden und Lesen halten Leiris am Leben. Er versucht, seinen Sohn zu schützen und eine glückliche Existenz aufzubauen, jedoch ohne ihm die Wahrheit zu verschweigen. Zwei Tage nach Hélènes Tod kommt Leiris dazu, es seinem Sohn zu sagen. An diesem Abend hören sie eine Musik Playlist, die Hélène für Melvil zusammengestellt hat. Dabei öffnet Leiris auf dem Handy einen Ordner mit Bildern: Das Gesicht Hélènes erscheint als erstes. Was folgt, ist die Reaktion eines kleinen Kindes, dem plötzlich bewusst wird, dass es seine Mutter schon seit Tagen nicht mehr gesehen hat. „Sofort zeigt er ängstlich mit dem Finger auf sie und dreht sich zu mir um, die lächelnden Mundwinkel haben sich nach unten gebogen, heiße Tränen stehen ihm in den Augen.“ Es ist Zeit, Melvil muss wissen, dass seine Mama nicht mehr wiederkommen wird. „Er weint, wie ich ihn noch nie habe weinen sehen,“ berichtet Leiris, der es uns durch seinen pointierten Berichtstil erlaubt, seinen Kummer zu spüren. Er lässt uns in seine Welt hineinschauen, geschützt durch die Entfernung, aber dennoch so nah dran, dass wir für ihn und vor allem für Melvil tiefe Gefühle empfinden können.
Trotz seines großen Verlusts, seiner Trauer, spricht Leiris nicht von Hass. Nie. Für ihn würde das bedeuten, die Terroristen hätten über ihn triumphiert. Das haben sie aber nicht, schreibt er: „Wir werden mit unserem eigenen Leben weitermachen.“ Stattdessen verkündet er: „Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt.“
Leiris versucht nicht, uns eine Liebesgeschichte zu verkaufen, er versucht nicht von dem Mord an seiner Frau zu profitieren. Mit seinem Bericht fordert er die Kontrolle über sein Leben von den Terroristen zurück. „Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger misstrauisch beobachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel.“ Die Geschichte ist die einer ganz normalen Familie, die bis zu dem Attentat ruhig und unauffällig in Paris lebte und das ist genau das, was Meinen Hass bekommt ihr nicht extraordinär macht. Antoine Leiris beschreibt nichts anderes als sein Leben nach einem grausamen Erlebnis, aber die Realität ist, dass dieses Schicksal jedem von uns passieren kann. Die zentrale Botschaft dieser Geschichte ist von der Tragik geprägt, seine eigene Frau plötzlich zu verlieren, voller Fragen und ohne Antworten darauf zurückzubleiben mit einem Kind, das man nicht von der Realität fernhalten kann, dennoch entscheiden muss, was nach der Trauer folgt. Es muss weitergehen.
Seine Wörter sind nicht literarisch, sie sind in einer einfachen Sprache erschaffen. Es ist die Sprache eines Tagebuches, geschrieben, um die eigene Seele zu beruhigen, veröffentlicht, um der Welt Hoffnung zu geben. „Ich hätte mir gewünscht, dass mein erstes Buch eine Geschichte wäre—aber auf keinen Fall meine. Ich hätte die Wörter gern geliebt, ohne sie fürchten zu müssen.“ Aber als er dieses Buch schrieb, waren für Leiris die Wörter seiner eigenen Geschichte wie eine Therapie. Es ist, als wäre all der Ballast auf dem Blatt geblieben, damit der Autor weiterleben kann. Seine Wörter rufen keinen Hass hervor, sondern fallen auf das Blatt und zeigen der Welt, dass die Terroristen keinen Hass verdient haben. Hass ist genau das, was die erzwingen wollen. Von Antoine und Melvil Leiris bekommen sie ihn aber nicht.
Meinen Hass bekommt ihr nicht ist nicht politisch geprägt, Leiris ist kein Held, er ist einfach nur ein Mann, den der Terror erwischt hat. Fragen nach den Beweggründen von Terroristen sowie Reaktionen der Betroffenen auf Terrorismus spielen im Buch keine Rolle. Auch seine private Meinung hat auf den 141 Seiten wenig Bedeutung, außer der Betonung, dass Hass nichts lösen kann. Er entscheidet nun für sich selbst, dass Hass ihn und Melvil nicht weiterbringen kann, dass er Hélène nicht wiederbringen kann, dass er nur die Macht in den Händen der Terroristen weiter bestehen lässt. Meinen Hass bekommt ihr nicht, das von Doris Heinemann ins Deutsche übersetzt wurde, ist die durchaus rührende Geschichte von Antoine und Melvil… und Hélène, ist jedem zu empfehlen, der keine Analyse des Terrorismus lesen möchte, sondern einen gelungenen, bewegenden Bericht eines Betroffenen, der nicht aufgeben möchte. Ihre Geschichte endete nicht am 13. November 2015. Sie geht außerhalb des Buches weiter—und zwar ohne Hass. Dieser kurze, gefühlserregende Bericht lädt den Leser zum Nachdenken ein: Der Terror ist da—was, wenn wir die Nächsten sind? Wie würden wir mit ihm umgehen?
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
|
||