Ein Mehr an Bedeutungen

Navid Kermanis Hölderlin-Auswahl „Bald sind wir aber Gesang“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das ist wahrscheinlich die Wirkung gewesen: das Gedicht als Baedeker, und dann die Entdeckung, daß die Dinge Schatten werfen, zurück in die Vergangenheit und irgendwohin, wo man lediglich mit Ahnungen tasten kann, heute weiß man, daß es die Zukunft war.“ So beschreibt Martin Walser im Rückblick unter dem Titel Hölderlin auf dem Dachboden (1960) die Wirkung, die Hölderlins Gedicht Heimkunft, in einem zerfledderten Bändchen auf dem Dachboden entdeckt, auf den damals 14- oder 15-jährigen Leser hatte.

Walser ist einer von vielen Schriftstellern, für die das Werk Friedrich Hölderlins ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg zur eigenen Schreib-Biografie war – auch im Sinne des bekannten Hölderlin-Zitats „was bleibet aber, stiften die Dichter“. Allein in unseren Tagen ließe sich dazu im deutschsprachigen Raum eine stattliche Anzahl bekannter Autoren (weniger wohl Autorinnen?) aufführen. Doch nicht nur für Dichterinnen und Dichter übt das Werk Hölderlins bis heute eine faszinierende Anziehungskraft aus.

Pointierte Schlaglichter auf die große Bandbreite der Hölderlin-Rezeption hat jüngst Karl-Heinz Ott in seinem gleichermaßen gelehrten wie polemisch zuspitzenden Essay Hölderlins Geister geworfen. „Mit seinen Geschichtsmythen eignet Hölderlin sich besser für weltanschauliches Gegrabsche als die meisten anderen Dichter“, lautet ein Fazit nach dem leicht verständlichen, klugen und humorvollen Parforceritt durch die Welt des postum viel gelesenen Poeten.

Wie lebendig der 1843 im Tübinger Turm verstorbene schwäbische Dichter immer noch ist, wird in diesem Jahr besonders deutlich. Ähnlich wie 2011 anlässlich des 200. Todesjahrs Heinrich von Kleists, als es eine Fülle von Veranstaltungen weltweit gab, gilt nun seinem unbehausten Bruder im Geiste zum 250. Geburtstag breite Aufmerksamkeit, wie ein Blick auf die Website https://www.hoelderlin2020.de des von Thomas Schmidt, dem Leiter der Arbeitsstelle für literarische Museen in Baden-Württemberg beim Deutschen Literaturarchiv Marbach, koordinierten Veranstaltungsreigens zeigt. Mit über 650 Veranstaltungen gedenken die Landsleute – und zum Glück wohl nicht nur diese – ihres zu dessen Lebzeiten vergessenen Dichters.  Doch Gedenk- und Jubel-Jahre bringen nicht nur zahlreiche Veranstaltungen und biografische sowie wissenschaftliche Auseinandersetzungen hervor, sondern auch Anthologien. Dazu hier ein Beispiel.

Ein Schriftsteller, der nicht nur ähnlich früh wie Martin Walser, allerdings eine gute Generation nach diesem, mit Hölderlin in Berührung kam und sich seither immer wieder mit ihm auseinandergesetzt hat, ist Navid Kermani. Der habilitierte Orientalist, Romancier, Essayist, Journalist und glänzende Redner hat sich unter anderem  2010 bei seiner Frankfurter Poetikdozentur in fünf Vorlesungen mit Hölderlin auseinandergesetzt. Sie sind 2012 unter dem Titel Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe erschienen. Dort wie auch in seiner nun vorgelegten Auswahl mit dem Hölderlin-Zitat Bald sind wir aber Gesang im Titel verweist Kermani auf die Bedeutung der Sattlerschen Hölderlin-Ausgabe. Heißt es in dem Band von 2012 über diese Ausgabe unter anderem: „mit den Dokumenten und Briefen […] wird nicht Hölderlins Leben, wie es Biographen gern hätten, sondern wird sein Werk als Roman lesbar“, so schreibt Kermani im Nachwort seiner neuen  Auswahl aus Hölderlins Werken und Briefen „Die strenge Chronologie der Frankfurter Ausgabe, die selbst Wäschelisten und Amtsbescheide unterschiedslos in die Hymnen und Aufsätze streut, brachte es mit sich, daß Hölderlins Ton stets von den alltäglichen Belangen und Erfordernissen durchwirkt war. […] Wogegen ich mich jederzeit sperren würde: ein Werk zu betrachten im Lichte der Autorenbiographie – ausgerechnet bei Hölderlin, der sich bewußt und erklärt die fremdesten, der eigenen Person fernsten Stoffe vornahm, dessen Sprache sich so weit wie im Deutschen nur irgend möglich vom alltäglichen Gebrauch abhob, dessen literarisches Ich jeden Anschein verwehrte, mit dem Autor identisch zu sein, ausgerechnet Hölderlins biographische Zeugnisse wurden zum Schlüssel der zweiten Lektüre, die an kein Ende mehr kommen wird.“

Denn Kermanis erste Hölderlin-Lektüre „mit siebzehn, achtzehn Jahren“ war, anders als bei Walser in den 1940-er Jahren, nicht gerade von gebannter Faszination geprägt, wie er im Nachwort seiner Auswahl festhält: „Sein hoher Ton enervierte, die Lebenswirklichkeiten, die er schilderte, wirkten unwirklich und fremd; auf kaum einen Affekt stieß ich, der nicht übersteigert zu sein schien, und für die gesellschaftlichen Zustände, die für uns das entscheidende Thema waren, interessierten sich seine Dichtungen nur von fern. […] Mehr als alles andere aber vermißte ich bei Hölderlin, um es in der damaligen Sprache zu sagen, auch nur einen geraden Satz.“

Eine Sichtweise, die sich dann mit „D. E. Sattlers Frankfurter Ausgabe im Verlag Stroemfeld/Roter Stern“ für Kermani grundlegend änderte. Kermanis „Auswahl so subjektiv, wie Liebe nur sein darf“, lässt nun seine zweite, unabschließbare Hölderlin-Lektüre nachvollziehbar werden. Denn die Auswahl, die Gedichte, Teile aus dem Hyperion und dem Tod des Empedokles, Aufsätze und Aphorismen sowie Übersetzungen und insbesondere auch Auszüge aus den Briefen versammelt, ist aufgrund des fehlenden Kommentars weniger geeignet für eine erste Hölderlin-Lektüre, sondern eher für einen wiederholten Zugang zum Werk des Dichters.

Kermanis Auswahl setzt ein mit dem Gedicht An die klugen Rathgeber aus dem Jahre 1796 und endet mit einem Stammbucheintrag des „unterthänigste(n) Buarotti“ an einen Unbekannten aus dem Jahr 1840, überschrieben mit „Von der Realität des Lebens“. Abgedruckt ist in Kermanis Ausgabe unter anderem die erste Fassung von Heimkunft, jenes Gedicht, das den jungen Walser so fasziniert hatte, in dem die herrlichen Verse stehen: „Heimzugehen, wo bekannt blühende Wege mir sind, / Dort zu besuchen das Land und die schönen Thale des Neckars, / Und die Wälder, das Grün heiliger Bäume […] / Und in Bergen ein Ort freundlich gefangen mich nimmt“. Oder der Entwurf von Mnemosyne mit den Versen: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“.

Die abgedruckten Briefe beginnen mit einem Schreiben an Freund Neuffer, den „Bruder meiner Seele“, aus der zweiten Aprilhälfte 1792, worin Hölderlin in gewohnter (pietistisch geprägter) Introspektion bemerkt: „Ich hänge mich an alles, wovon ich glaube, daß es mir Vergessenheit geben könne, u. fühle jedesmal, daß ich verstimmt und unfähig bin, mich zu freuen, wie andre Menschenkinder.“

In Kermanis Auswahl folgt dann jener Brief vom November 1794, in dem Hölderlin die für ihn so missglückte Begegnung mit Goethe in Jena schildert. Neben Neuffer, dem Bruder Karl Gok und Casimir Ulrich Böhlendorff gehört auch die „Theuerste“, Susette Gontard, zu den Adressaten der Briefe in dieser Ausgabe. Und natürlich sind einige Schreiben an die „verehrungswürdigste Mutter“ ausgewählt. Sie spiegeln das lebenslang ambivalente Verhältnis zwischen ihr und dem Sohn wider.

Vermisst ein Erstleser des Hölderlinschen Werkes in dem Auswahlband vielleicht jene „geraden Sätze“, die auch dem jungen Kermani buchstäblich fehlten, so folgt der mit Hölderlin vertraute Leser bei der Lektüre weniger bekannter Fassungen von Gedichten oder Fragmenten vermutlich leichter der Sicht des Hölderlin-Enthusiasten: „Es war, es ist eine Stimme, die nach eigenem Bekunden nicht einmal Hölderlin selbst ganz verstand, während er mitschrieb.“ Daraus entstanden ist tatsächlich ein Meer voller Bedeutungen, „ein Mehr, das nicht in Bedeutungen aufzulösen ist“, wie Kermani formuliert. So lässt sich jene Walser-„Entdeckung“ machen, „daß die Dinge Schatten werfen, zurück in die Vergangenheit und irgendwohin, wo man lediglich mit Ahnungen tasten kann, heute weiß man, daß es die Zukunft war.“

Titelbild

Friedrich Hölderlin: Bald sind wir aber Gesang. Eine Auswahl aus seinen Werken und Briefen. Von Navid Kermani.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783406742309

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch