Doing sex

Marlene Stein-Hilbers' nachgelassenes Werk zu sexueller Sozialisation und Geschlechterverhältnissen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihr letztes Buch "Sexuell werden" konnte Marlene Stein-Hilbers nicht mehr selbst fertig stellen: 1999 starb sie kurz vor Abschluss des Manuskriptes. Ihre langjährige Mitarbeiterin Brigitta Wrede hat den Text redaktionell bearbeitet und herausgegeben. Mit ihm liegt ein gelungener Überblick zum Forschungsstand der ontogenetischen Entwicklung von Geschlechtszugehörigkeit und -identität sowie zu den lebenslangen Veränderungen des persönlichen sexuellen Erlebens und Verhaltens vor, der sich auf umfangreiches - gelegentlich allerdings allzu umfangreiches - empirisches Material stützt. Eine "umfassende Einführungslektüre", wie die Herausgeberin im Vorwort zu Recht sagt. Verständlich und nachvollziehbar werden aus soziologischer und entwicklungspsychologischer Sicht die Prozesse beschrieben und analysiert, "in denen sich Menschen zu sexuell empfindenden und handelnden Persönlichkeiten entwickeln". Obwohl Stein-Hilbers ihren wissenschaftstheoretischen Standort explizit ausweist, indem sie betont, dass ihr Buch aus einer "konstruktivistischen Perspektive" geschrieben ist, gilt ihr Interesse nur am Rande den derzeit in den 'gender' und 'queer studies' virulenten theoretischen oder gar metatheoretischen und wissenschaftskritischen Kontroversen. Gelegentlich und scheinbar beiläufig nimmt sie dennoch zu strittigen Fragen Stellung. Dann allerdings dezidiert und in der Regel gegen den 'mainstream'. So etwa, wenn sie darauf insistiert, dass "in unserem Kulturkreis [...] 'Geschlecht' die zentrale Kategorie zur Unterscheidung von Menschen" sei, und so die Trias der seit längerem gemeinhin als gleichrangig gehandelten Analysekategorien 'gender', 'race' und 'class' wieder aufbricht. Anders als andere Identität(sentwicklung)en wie "Beruf, Bildung, Ethnie, Nationalität oder sexuelle Präferenz", so rückt die Autorin zurecht, sei "die Ausbildung einer stabilen Geschlechtsidentität in modernen Gesellschaften unausweichlich". Denn die Menschen seien "aufgrund des vorgegebenen Geschlechterdualismus" dazu gezwungen, "sich subjektiv als Mann oder Frau zu entwickeln und entsprechend zu leben". Das gelte auch dann noch, wenn sich jemand in dem ihm - beziehungsweise ihr - zugeschriebenen Geschlecht nicht "heimisch" fühle. Das klingt überzeugend, auch wenn hinter "Ethnie" vielleicht ein kleines Fragezeichen zu setzen wäre.

Ebenso eindeutig fällt Stein-Hilbers' - allerdings in eine Fußnote verbannte - Stellungnahme zu dem umstrittenen und kritisierten Begriff 'Identität' aus: Auf der "diskurstheoretischen/-politischen Ebene" sei die von DekonstruktivistInnen und PoststrukturalistInnen an dem Begriff geübte Kritik "zum Teil längst überfällig" gewesen. Auf der "subjektiven Ebene" hingegen hält sie ihn für "unverzichtbar".

Ohne den Terminus 'doing gender' zu benutzen, gelingt es der Autorin auf verständliche Weise, die sexuelle Sozialisation von Menschen zu Männern und Frauen nachzuzeichnen. Geschlechtsidentität werde nicht nur von außen 'ansozialisiert', sondern in einem "interaktiven Aushandlungsprozess" erworben, wobei die Individuen "auf bewährte Symbolsysteme" zurückgriffen und sich dennoch als "einmalig und unverwechselbar" präsentierten. Im Schnittpunkt vielfacher sozialer "Variablen" wie etwa Klasse und Ethnizität "verkörpern und realisieren" sie als 'männlich' und 'weiblich' definierte "Eigenschaften und Verhaltensweisen".

Auch Stein-Hilbers' Abriss der lebenslangen Entwicklungen und Veränderungen von sexuellem Erleben und Verhalten und den Bedingungen, unter denen sie stattfinden, kann als gelungen bezeichnet werden. Zwar gebe es eine "biologische Fundierung von Sexualität", aber sexuelle Erfahrungen, Zustände und Prozesse "'an sich' und 'für sich'", also "gleichsam naturwüchsig" zu erfahren, sei notwendigerweise ebenso unmöglich wie den Körper 'an sich' oder 'für sich' wahrzunehmen, zu bezeichnen oder Körpererfahrungen mitzuteilen. "All dies können wir nur innerhalb symbolischer Ordnungen". Vor allem an die Sprache sei hierbei zu denken. Auch dieser "soziokulturelle Sinnhorizont" symbolischer Ordnungen selbst sei "diskursiv produziert". Von einem "allgemeinen biologischen Imperativ", der das tatsächliche Sexualleben in seinen "konkreten Formen" bestimme, könne daher keine Rede sein. Vielmehr sei es "historisch, kulturell und regional gebunden" - und eben insofern auch veränderbar. Mehr noch: es entwickle sich zwar abhängig von "konkreten Ereignissen, Erfahrungen und kulturellen Bewertungen", doch seien diese "insgesamt nicht nur etwas, was Individuen" widerfahre, sondern vielmehr - in Parallele zum 'doing gender' der Entwicklung von Geschlechtsidentität - "aktive und konstruktive Selbst-Einordnung in ein System sexueller Deutungen und Normierungen" eines auf spezifische Weise sexuell handelnden Individuums, das sich zwar im Rahmen bestimmter Traditionen entwickelt, denen es aber durchaus widerstehen und sie verändern könne. "Die eigene Sexualität ist damit gestaltbar und auch wandelbar." In diesem Sinne, so könnte man sagen, ließe sich also - gegen den vermeintlichen biologischen Imperativ - nicht nur von 'doing gender' reden, sondern auch von 'doing sex' - oder genauer gesagt 'doing sexuality'.

Titelbild

Marlene Stein-Hilbers: Sexuell werden. Sexuelle Sozialisation und Geschlechterverhältnisse.
Verlag Leske und Budrich, Leverkusen 2000.
183 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3810022217

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