Unterwegs zum Bild

Derridas Randgänge zwischen den Medien

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Nietzsche und Heidegger gibt es in der Philosophie einen Dialogkontext zwischen Philosophie und Kunst. Für Adorno etwa steht neben der "Negativen Dialektik", die kein Ganzes, zur Versöhnung der Gegensätze Eingerichtetes mehr denken kann, die "Ästhetische Theorie", in der diese Versöhnung auf dem Wege der Mimesis als möglich gedacht wird. Und auch die Arbeiten Jacques Derridas zur Malerei sind in erster Linie als Beiträge zur philosophischen Ästhetik zu lesen, wie nicht nur der Stellenwert zeigt, der in diesem Zusammenhang der Auseinandersetzung mit den einschlägigen Schriften von Kant und Hegel bis Heidegger eingeräumt wird. Im Gegensatz zu Adorno jedoch macht Derrida unmissverständlich deutlich, dass die Gegenwärtigkeit der Wahrheit überhaupt in Zweifel zu ziehen sei. Derrida stellt die zentrale Frage nach dem Legitimationsgrund, der es erlaubt, im wissenschaftlichen Rahmen von einer Erfahrung der "Wahrheit in der Kunst" zu sprechen, die grundlegend verschieden ist von den Begriffen und Kategorien wissenschaftssprachlichen Zugriffs.

Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass es keine völlig objektiv-neutrale Mitteilungsmöglichkeit gebe, da der Zugang zum Kunstwerk durch die Wirkungsmechanik hermeneutischer Sprache begrenzt sei. Derridas dekonstruktive Ästhetik zeigt, wie stets ein dem Wesen des Werks (Text oder Bild) heterogenes Element an dieses herangetragen wird, das die angestrebte ganzheitliche Erfassung des Sinns eines Werkes in letzter Instanz immer verfehlen muss. Die Essays über Kunst in seinem Buch "La vérité en peinture" (dt. "Die Wahrheit in der Malerei") thematisieren eine serielle Verschiebung der normativen Grenzen von Kunst und Theorie. Die Kunst wird in Bezug auf ihre kanonisierten Bestimmungen hinterfragt, wie auch bezüglich der Effekte, die diese Begrenzungen von einer Alterität aus kontaminieren. Es geht dabei vor allem um die "imaginären Bänder, die die Rede von der Wahrheit in der Malerei mit der Figur, dem Mal, der Spur auf der Leinwand oder im Kunstwerk selbst verbinden." Folgerichtig wendet sich Derrida daher den Aspekten zu, die in der klassischen Ästhetik eher sekundär sind, der Unterschrift, der Beschriftung, der Zuschreibung, der Serialität, der Ausstellung und damit einem generellen Recht auf Einsicht. Derrida macht Kunstwerke zu Texten, die auf ihre Weise etwas auszudrücken vermögen, was der philosophische Diskurs nicht zu artikulieren vermag. Wie Wahrheit in der Kunst, als poietischer Akt des Malens, anzutreffen ist, indem sie sich abschließender Vergegenwärtigung entzieht, ist es im Denken Derridas nicht ein Interpretationsobjekt neben anderen, sondern die Initiierung eines Geschehens, das stets parallel zur Destruktion von Sinneinheiten in Texten verläuft. In dem Maße, wie der philosophische Text als Text die Grundlage für immer neue Interpretationen ist, gibt es auch keine eindeutige Auslegung eines Kunstwerks, die seine Wahrheit erkennen ließe. Das begründet die unauflösliche Verbindung, die selbst wieder paradoxe Parallelität von philosophisch-ästhetischem Diskurs und Kunst. Der Prozess des Dekonstruierens beschäftigt sich mit all den fragmentarischen und kryptischen Details, die neben dem Text auch das Bild nicht als Präsenz und Fülle ausweisen, sondern es als Spur begreifbar werden lassen. Unter der Oberfläche der pictura erscheint eine Ebene des Gleitens von Sinn und der Überlagerung von Mehrdeutigkeiten im Kunstwerk als eine nie an ein endgültiges Ende gelangende Aktivität des Ausdrucks.

Diese Duplizität bzw. Dialektik des Bildes nimmt Michael Wetzel zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur "Wahrheit nach der Malerei". Es geht ihm dabei explizit um "das Bild in seiner generellen, über die gemalte hinausreichende Wahrheit des Erstellens einer zweiten Welt, einer anderen Realität des Wirklichen, wie die Philosophen sagen würden: um die ontologischen Funktionen des Bildes als Seinsbereich des Imaginären." Einer der Bezugspunkte ist das seit der Antike zu beobachtende faktische Spannungsverhältnis der traditionellen Malerei zu anderen Medien des künstlerischen Ausdrucks von Realität: Die Opposition der Zeichenordnungen Literatur und Malerei, die Lessing im "Laokoon" zu einer strikten Zurückweisung der Urbild-Abbild-Relation und zur Theorie über die eigene Wirklichkeit der Kunst veranlasste, weicht in den letzten Jahrzehnten vielmehr der Opposition von Malerei und Photographie, Film und Video. Wetzels dekonstruktiver Ansatz einer Medienanalyse streicht - in Anlehnung an Derrida - in erster Linie den "Entzug der Bilder" heraus, der gewissermaßen schon den Wechsel der Medien bedingt, in dem sich das Andere der Bilder manifestiert. Die Setzung einer generellen 'Interpikturalität' der Bilder (parallel zur Intertextualität der Texte) bedingt die Einsicht, dass "die Bilder in ihrer Aktualität nicht auf Gegenstände verweisen, sondern auf andere Bilder, ja implizit auf die ganze Potentialität des Bildprozesses." Für Wetzel - wie auch schon für Derrida - verweist dieser memoriale Zug des Bildes "weniger auf die Wahrheit des Gewesenen als vielmehr die Wahrheit seiner immerwährenden Zeitlichkeit, als Passage im raum-zeitlichen Sinne, das heißt als Übergang und Durchgang zu anderen, latenten Bildern: erinnerten, assoziierten, imaginierten oder auch erfundenen Bildern." Dabei geht es immer auch um eine Forderung nach Gerechtigkeit für das 'Außen' all des Vergessenen oder Nicht-Gesehenen gegen das 'Innen' einer geschlossenen Repräsentation.

Vor dem Hintergrund der "documenta X" in Kassel nimmt Wetzel Zweierlei unter die Lupe: zum einen die Auseinandersetzung der Kunst mit den massenmedialen Bildreproduktionen der Photographie, des Films und später des Fernsehens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die wesentlich im "Zeichen einer Krise des Werkcharakters" stand; zum anderen die ästhetische Aporie in der zweiten Jahrhunderthälfte als Folge einer Selbst-Thematisierung der Ausstellbarkeit von Kunst, die in erheblichem Maße klassische Wahrheitskriterien wie die Interdependenz von Werk und Autor destruiert. Nicht zuletzt die begleitende Lektüre Derridas zu den Photos von Marie-Françoise Plissart in "Droit de regards" (dt. "Recht auf Einsicht") wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Gerade die "dX" hat die hier sichtbar werdende Verschiebung vom Werk zum Prozess der Herstellung von Kunst, von der Ausstellung zum Kulturdiskurs thematisiert und das generelle 'Recht auf Einsicht' kritisch hinterfragt. Der Akt des Ausstellens wird sichtbar als Performativ, als ein Sich-Ausliefern der Kunst an eine Situation, deren kultureller Kontext als Zusammenhang von Öffentlichkeit und Erfahrung mit ausgestellt werden soll.

Die neuen Techniken der Telekommunikation - und mit ihnen die der Produktion und Destruktion - verändern somit die Raum-Zeit-Verhältnisse in bisher noch kaum begriffener Radikalität. Die Welt ist zu einem einzigen großen Raum geworden, wie es sich die Kosmopoliten zu Beginn der Moderne kaum haben erträumen können. Doch hat dieser Raum, darauf verweist Derrida ausdrücklich, auch eine ihnen unbekannte Qualität: hybrid in seinen kulturellen Bestimmungen, sich überlagernd, heterotop. Im Mittelpunkt steht der Bereich des Nicht-Verorteten, einer neuen Epoche des Einbrechens eines Außen anderer Räume in die Gegenwärtigkeit der Innen-Räume, die Foucault als "Heterotopie" bezeichnet hat. Derridas Analysen berühren sich hier eng mit den Ansichten des französischen Medientheoretikers Paul Virilio, der diese beschleunigte Ablösung der Bilder von ihrem Ort, ihre Dekonstruktion und Dislokation als den "blinden Fleck der Präsenz der heutigen Kunst" bezeichnet hat. Gleichzeitig evozieren Derridas Schriften das Thema einer Ästhetik 'nach Auschwitz': der Darstellung des Undarstellbaren als Erfahrung von Unverfügbarkeit und Unfasslichkeit in einer sich entziehenden Präsenz. Der rabbinischen Hermeneutik eines Lesens zwischen den Zeilen ist Derrida dabei ebenso verpflichtet wie etwa Daniel Libeskind, der dieses virtuelle Moment als positive Kraft der Leere versteht, wie sie in den voids des Erweiterungsbaus des Jüdischen Museums in Berlin zum Ausdruck kommt.

Pointiert gesagt, erhebt Derrida in seinen Schriften zur Literatur und Kunst das Sich-Bewegen im Dazwischen, im buchstäblich Medialen, zum Grundprinzip des Textes wie auch des Bildes. In seinem Essay "Mémoires d'aveugle. L'autoportrait et autres ruines" (dt. "Aufzeichnungen eines Blinden") etwa geht es um das Sehen in der Malerei und dessen Zusammenhang in einem 'Sehen jenseits der Sinne': visionäre Einsichten, die in der Malerei oft als Blendung und Erblinden dargestellt werden. Während der Künstler blind aus dem und für das Gedächtnis arbeitet, verschiebt sich der Blick des Betrachters von der Wahrnehmung zur Erinnerung: "So als dürfte man, um zu zeichnen, nicht sehen, so als könnte man nur unter der Bedingung zeichnen, daß man nicht sieht, so als wäre die Zeichnung eine Liebeserklärung an die Unsichtbarkeit des anderen, wenn sie sich nicht überhaupt der Tatsache verdankt, den anderen dem Sehen entzogen zu sehen."

Derrida zeigt eindrücklich, wie jedes Bild ein anderes zum Verschwinden bringt, indem es die Oberfläche zerstört und die sichtbar gewordene, endgültige Form durchstreicht. Das Erkennen der Palimpseststruktur des Bildes ermöglicht ein Öffnen der Augen für das Abwesende und Vergangene, aber auch für das erst Kommende. Malerei verdankt sich daher einem Ab-Sehen von den Gegenständen, einem Ab-Blenden der Oberfläche zugunsten eines 'subkutanen Blicks', der das Vergessene, Übermalte des Bildes zu entdecken hilft. Es gilt, wie Wetzel im Nachwort zu Derridas Überlegungen schreibt, "keinen platonischen Chorismus zwischen Ideen- und Phänomenwelt zu überwinden, sondern die ursprüngliche Blindheit des Malers im Bild zu lichten, d.h. zu exhibieren; keine ursprüngliche Präsenz zu restituieren, sondern - im Sinne jenes legendären Schibboleths der Grammatologie - die 'différance' des abwesenden Gegenstandes als Bahnung oder Aufschub des Sehens im Bild zu begreifen, als Hypothese oder Unterstellung eines Sehens in den signatura rerum, das niemals bei einem eigentlichen Bild ankommt, sondern sich immer in der Passage des Bildes oder - im Sinne Heideggers gesprochen - unterwegs zum Bild befindet." Derrida liest dieses semantische Gleiten zwischen Anamnese und Amnesie als einen Abschied, bei dem "die Präsenz des Gegenstandes durch eine Spur, ein seine Abwesenheit supplementierendes Erinnerungsmal ersetzt wird." Implizit schlussfolgert er, dass alle Sinnzuweisungen per se "Aufzeichnungen eines Blinden" sind: das konzentrische Umkreisen (Zirkumskription) eines blinden Flecks, der in Form einer Zerstreuung (Dissemination) seine angemessene Darstellungsweise findet.

Es geht beim Bild, wie Maurice Blanchot in "L'espace littéraire" treffend bemerkt, um den Prozess der Passage zwischen Offenbarung und Entzug, um das "Unfaßbare, Inaktuelle, Gleichgültige" und das "Gegenwärtige in seiner Abwesenheit, das Faßbare weil Unfaßbare, das als Verschwundenes erscheint, als Wiederkehr von dem, was nicht wiederkehrt." Mit der Lesbarkeit der Bilder wird an den unabgegoltenen Zeitfaktor derselben erinnert, der sich nicht auf das chronologisch Lineare, Sukzessive der literarischen Darstellungsweise beschränkt, sondern die Zeitlichkeit des Bedeutens und das prozessuale Entziffern hervorhebt. Was nach Wetzel bleibt, ist "die Bewegung des Aufschubs im Unterschied zwischen Bild und Text; die Verräumlichung der Trennungslinie zur Oberfläche unterschiedlicher Aufzeichnungen, die alle nur beliebige Visualisierungen ein und desselben unaufhaltsamen Datenstromes sind - als Texte, Bilder, Plastiken, Töne, Photographien, Filme etc." Was Derrida 'Dekonstruktion' nennt, impliziert dieses Lesen von Bildern als Text, wie er in einem Interview mit Peter Brunette und David Wills bestätigt: "es gibt Text, sobald sich die Dekonstruktion auf artistisch, visuell oder räumlich zu nennende Felder einläßt. Es gibt Text, weil immer ein diskursiver Rest irgendwo in den visuellen Künsten bleibt, und auch, weil, auch wenn es keinen Diskurs gibt, der Effekt der Verräumlichung schon eine Textualisierung impliziert."

Auf eindrucksvolle Weise gelingt es Wetzel, generelle Überlegungen zum Verhältnis von Text und Bild, zum Widerstreit der Künste zwischen Dichtern und Malern, zur Sprache der Bilder und ihrer Lesbarkeit sowie zur Dekonstruktion in den visuellen Künsten wiederholt an Derridas Schriften zur Kunst zu exemplifizieren. Ausgehend von dem bei Derrida sichtbar werdenden scheinbaren Paradoxon einer 'Präsenz als Abwesenheit' wird das Bild als Re-Präsentation, als Supplement von etwas verstanden, dessen gleichzeitige Abwesenheit durch das Bild attestiert wird. Derridas Randgänge an den Grenzen der Medien zeigen eine Ästhetik des Verschwindens auf, die jedoch nicht das Verschwinden im Sinne der Auflösung in nichts markiert, sondern eine Dekomposition der Elemente, ein Zerreißen der Konstellationen praktiziert, um Gerechtigkeit für das Verdrängte, Vergessene oder Nicht-Gesehene einzuklagen. Die serielle und intermediale Ästhetik Derridas hat hier ihre Schnittpunkte mit Foucaults "Heterotopie" und Virilios "Teletopologie" und ist implizit auch Gilles Deleuzes Gedanken verpflichtet, der in seinem Buch über Francis Bacon fordert, dass der Maler "keine weiße Fläche zu füllen hat, er müßte sie vielmehr leeren, räumen, reinigen."

Titelbild

Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Michael Wetzel.
Übersetzt aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel.
Wilhelm Fink Verlag, München 1997.
166 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770530187

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Titelbild

Michael Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei.
Wilhelm Fink Verlag, München 1997.
328 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-10: 3770532031

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Titelbild

Marie Plissart / Jacques Derrida: Recht auf Einsicht.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Wetzel.
Passagen Verlag, Wien 1998.
144 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3851650085

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