Vereitelte Liebe in zerrissener Sprache
Die vergebliche Verzauberung durch Liebe umkreist eine nachgelassene Erzählung von Franz Jung
Von Jan Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Liebe Sylvia": so beginnt Franz Jungs Erzählung über die Verzauberten. Dem Leser schwant sogleich Ungutes, denn es folgt eine melancholische Reflexion über die Verflechtung von bloßer Körperlichkeit und hehrem Gefühl. Um eine Abrechnung scheint es sich zunächst zu handeln. "Ich empfinde keine Reue, ich fühle keine Verpflichtungen", gesteht der Ich-Erzähler seiner Adressatin, bevor er sich an die Entwicklung ihrer Beziehung erinnert.
Wie es Erinnerungen nun einmal erfordern, braucht es dazu unzählige Unterbrechungen. Über den verschlungenen Umweg der Assoziationen, über das Nachspüren plötzlicher Affekte umschleicht der Erzähler das eigentlich schon lang Vergessene und Begrabene. Dem Leser in seinen Fußspuren erschließt sich die Geschichte alles andere als gradlinig.
Schauplatz und genauen Zeitpunkt der Handlung muss er mutmaßen. Im Österreich der Dreißiger Jahre scheint sie angesiedelt zu sein. Das anämische Mädchen Anna, von der alleinstehenden Mutter verstoßen, durchläuft die Ausbildung zur Dorfschullehrerin. Da sie keine Stelle findet, sattelt sie um auf den Beruf der Tänzerin, nennt sich fortan Nada und zieht in die Provinz. In einem Teufelskreis aus Prostitution, Armut und Krankheit begegnet sie dem Erzähler, der ihr ein Freund wird und für eine Weile ihre latente Selbstaufgabe vereitelt.
Beide sind von einem fatalen Freiheitsdrang beseelt. Das Scheitern an der Mitwelt ist prädestiniert. Doch auch die intime Nähe zweier Subjekte gerät bei diesen misstrauischen, geschlagenen Wesen zu einem Kampf um Herstellung einer paradoxen, distanzierten Nähe.
Wie zwei Verlaufskurven sich in einem Punkt annähern und anschließend wieder ins je gegenseitige Unendliche abdriften, sind Nada und der Erzähler zunächst Freunde, entdecken dann, dass sie sich lieben - sich "verzaubert" haben - und trennen sich, ohne dass der Leser genau erfährt, weshalb.
Der Herausgeber Walter Fähnders weist im hervorragenden Nachwort die autobiographischen Bezüge nach, die Jung hier wie in seiner Autobiographie "Der Weg nach unten" verarbeitet hat. Anna, Sylvia und Nada laufen in der Halbweltdame und Geliebten aus Jungs Budapester Zeit, Anna von Meißner, zusammen. Die Erzählung ist also tatsächlich eine direkte Beschäftigung mit den eigenen Erinnerungen.
Freilich: diese außerordentliche Begabung zu solcher Beschäftigung hatte Jung schon im "Weg nach unten" bewiesen. Die inhaltlichen Parallelen der "Verzauberten" zur Biographie Jungs sind unübersehbar. Wozu aber dann noch diese von Entfremdung entstellte, bisweilen albtraumhafte Erzählung, wo doch obendrein in Liebesgeschichten bei jedem Schritt der Fettnapf des Kitsches droht?
Weniger die Geschichte selbst als vielmehr ihre Erzählweise macht "Die Verzauberten" interessant. Jungs rohe, abgehackte Diktion, die immer noch die expressionistische Herkunft verrät, paart sich mit einer unpathetischen, neusachlichen Lakonie. Die Überhöhung zu vorgekautem Kitsch verhindert das allgegenwärtige Verständnis der "Liebe" als ein soziales Phänomen. Die Figuren treiben durch die Erinnerung an provinzielle Tristesse, deren Idealisierung der Erinnernde sich verweigert. "Man könnte diese Vorgeschichte auch auf eine andere Weise darstellen", behauptet der Erzähler. Trotzdem weigert er sich, den gordischen "Knoten der Erinnerung" anders zu zerschlagen, als er es tut. Immer wieder kommt er in der für den späten Jung typischen reflektierend-abstrakten Weise auf den Akt des Erzählens zurück. Das ist nicht nur der Versuch, das Fiktionale durch das Autobiographische zu objektivieren, sondern auch eine faszinierende Auseinandersetzung mit bitteren Erinnerungen, wie es solche an verflossene Liebschaften meist sind.
Die Aufdeckung überhöhter Illusionen betreibt Jung mit konsequenter Trockenheit. Das macht seine Erzählung lesenswert. Mit dem Erzähler ertappt sich der Leser bei der Selbsttäuschung. "Diese Verzauberung bedeutet Leben, mehr wie das Leben", heißt es noch zu Beginn. Am Ende steht die doppeldeutige nüchterne Erkenntnis, dass unsere Welt eine echte Verzauberung zweier Menschen verhindert: "Es soll nicht sein."
Wie groß der eigene Schuldanteil am Scheitern der Liebe ist, bleibt offen. Es mag daran gelegen haben, dass Liebe wie ein Widerfahrnis aufgenommen wird. Auch das "soll nicht sein". Das Einverständnis zweifacher Selbsterkenntnis zwischen Erzähler und Leser verhindert, dass man das Buch mit einem melancholischen Seufzer beiseite legt. Jungs grobe Wortwahl wühlt auf und klingt nach, und das verzaubert.
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