Vermächtnis eines Lebens

Connie Palmens Roman "Die Erbschaft"

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Arzt ihr geraten hatte, "zu genießen, viel zu reisen und all das zu tun, was ihr Spaß machte", da wusste die Schriftstellerin Lotte Inden, "was die Uhr geschlagen hat" und stellte einen jungen Mann, den 30-jährigen Ich-Erzähler Max Petzler ein, "für rund um die Uhr, bei freier Kost und Logis." Sie waren sich im Verlag begegnet, in dem Max als freier Lektor in der wissenschaftlichen Abteilung tätig war und Lotte an einer Essaysammlung über das 20. Jahrhundert mitarbeitete. Lotte würde eines Tages vollständig gelähmt sein ("mit zehn Jahren", hatte der Arzt gesagt, solle sie nicht mehr rechnen).

So hat Max die Aufgabe, ihr in allem behilflich zu sein, sie die Treppen hinauf- und hinunterzutragen und vor allem dafür zu sorgen, dass ihr ihre Erinnerungen zugänglich bleiben, die sie im Dachgeschoss aufbewahrt und die sie halb scherzhaft ihr "Erbgut" nennt. Dieses Erbgut eines fast fünfzigjährigen Lebens sind alphabetisch geordnete Ringbücher, die aus gedruckten Büchern und persönlichen Aufzeichnungen bestehen. Denn nicht Bewegung sei ihr "Ding", hat Lotte, die auch eine passionierte Leserin ist, Max erklärt, sondern das Stillsitzen und Ordnen vergangener Erfahrungen, das Lesen und das Gelesene überdenken, weiterdenken und weiterschreiben. Anstoß zu dieser Idee gab ihr das erste Buch von Mark Aurels "Selbstbetrachtungen". Von da an destillierte sie die Bücher, eine Arbeit, die jetzt Max Petzler übernehmen muss und bei der es um solche Bücher geht, denen Lotte keine von ihr geschriebenen Texte beigelegt, sondern in denen sie auf den leeren Blättern am Ende, am Seitenrand oder auf dem Vorsatz, Anmerkungen gemacht hatte. "Oft war es nicht mehr als ein Wort, mit dem sie einen Absatz auf einer bestimmten Buchseite zusammenzufassen versuchte. Mitleid, Liebe, Familie, Originalität, Selbstzerstörung, Schreiben und so weiter."

Einige Biographien, erfahren wir von Max, "hatte sie im Regal quergestellt, so dass die Konterfeis auf ihrem Deckel inmitten der Fotos von Freunden und Verwandten genauso vertraut in ihr Zimmer hineinblickten wie die Menschen, die sie liebte. So wachte der scharfe Blick Samuel Becketts über mein Tun und Lassen, wichen mir die Augen Marguerite Duras' stets aus, schien Friedrich Nietzsche nie zufrieden mit dem, was ich machte, versuchte Elvis Presley mich mit seinem schiefen Grinsen jeden Tag aufs Neue zu bewegen, ihn doch nett zu finden und behielt Carry van Bruggen mit wissendem Blick das Geheimnis ihres Todes für sich."

Der Ich-Erzähler wird zum ersten Leser und Archivar von Lottes Aufzeichnungen und Gedanken. Sie alle sind Bausteine für Lottes letzten großen Roman, den sie nicht mehr vollenden kann und den Max daher eines Tages zu Ende führen soll. Systematisch wird er nun darauf vorbereitet.

Lotte und ihr Archiv faszinieren Max immer mehr. Insbesondere genießt er die Abende, an denen Lotte spricht und er zuhört. Sie erzählt vom Einfluss der Medien auf die menschliche Auffassung von der Wirklichkeit, über die Ähnlichkeit von Heiligenkult und Starkult, dann wieder kommt die Rede auf Amerika und alte Kulturen. Ein gutes Buch, sagt Lotte einmal, werde zusammengehalten durch das, was nicht drinsteht, das sei das Geheimnis des Autors, denn jedes Buch enthalte "ein ungeschriebenes Buch", das dem Autor "die Grenzen des Buches vorgibt, das er schreibt." Man debattiert über Güte, Sehnsüchte und Schicksal, über Serienmörder, die keine Lehren aus ihren Erfahrungen ziehen und ohne Mitleid sind.

Über das Lesen und Schreiben drehen sich lange Gespräche sowie über Trost und Anregung, die man aus Büchern gewinnt. Häppchenweise liest man als Leser viele andere Bücher mit, belletristische und Sachbücher - "Heimatlos" von Hector Malot zum Beispiel, Musils "Mann ohne Eigenschaften", Maslos Ausführungen über die "Hierarchie der Bedürfnisse", Richard Sennetts "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens" - und begegnet, wenn auch oft nur flüchtig, einer Reihe von Autoren: Samuel Beckett, Christopher Lasch, Romano Guardini.

Lottes große Liebe war TT, Mr. Tallicz, ein Jurist und bekannter Autor von Kriminalromanen, der vor einigen Jahren plötzlich aus dem Leben schied. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass Connie Palmen hier ihrem einstigen Lebensgefährten, den sie ebenfalls durch einen frühen Tod verlor und dem sie ihr vorletztes Buch "I. M. Ischa Meijer" gewidmet hat, erneut ein Denkmal setzt. Überdies ist diese Lotte strecken- und stellenweise sicher ein Alter Ego der heute in Amsterdam lebenden Schriftstellerin, die durch Bücher wie "Die Gesetze" und "Die Freundschaft" bekannt geworden ist.

Zuletzt wird Max Zeuge, wie Lottes Kampf mit ihrer Krankheit, ihrem Schicksal beginnt. Kurz bevor sie stirbt, sagt sie zu ihm:"Ich warte im Buch auf dich". Als am Abend ihres Todes alle Gäste das Haus verlassen haben, ist er in "ihr Erbgut eingetaucht, um sie wiederzutreffen. Und ich wusste genau, wo sie war."

Connie Palmens neues Buch ist nicht nur, wenn auch in erster Linie, eine Lektüre für begeisterte und kundige Leser, es handelt nicht nur von Lesen und Verstehen, von Fiktion und Wirklichkeit, sondern auch von Nähe und Distanz, von Liebe und Selbstzerstörung, von Gedächtnis und Originalität, von Leben und Tod.

Titelbild

Connie Palmen: Die Erbschaft. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes Verlag, Zürich 2001.
149 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3257062729

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