Das Leben hören, den Tod
"Reise, Toter" - ein Klangwerk aus Texten Durs Grünbeins
Von Ron Winkler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm Anfang wird der Mythos Ton. Geräusche wie von wispernder Brandung. Rauschen in Wiederkehr. Ein Styx scheint Wellen an den Strand zu schlagen. Sanft strandet der Fluss sein Wasser. Das letzte Wasser, der letzte Fluss.
Darüber, vor aufkommend sehnendem summendem Gesang, liegt ein Klirren. Vielleicht die Lautbewegung aufschlagender Münzen. Die ein Toter als Obolus in die Hand des Totenschiffers Charon entrichtet. Um in die Unterwelt eingelassen zu werden. Um anzulangen.
Vielleicht aber auch ein Knochenspiel im Wind - dem Restweltwind kurz vor dem statischen Reich der blutleeren Körper. Einem Raum ohne Raumkoordinaten. Einem Ort, den die sparsame Intonation landschaftslos erscheinen lässt. In die Ouvertüre von Plätschern und Klirren gesetzt, kann man beinahe die dort herrschende Stille sehen, das Dunkel lauschen. Dann setzt der dynamische Rhythmus einer Bewegung wie über Gleise ein - als Metrum zum Titel des Arrangements: "Reise, Toter".
Die Musikerin Ulrike Haage hat Texte des Lyrikers Durs Grünbein zu einer minimalistisch begleiteten Reise inszeniert, stückweise durch Vergängnis und Vergeblichkeit des Lebens. Der Weg führt über Belege der Verunsicherung, Skizzen routinierten Dahinvegetierens und Nachrufe auf absurde Todesfälle. Grünbein fokussiert die Strukturschwächen des Menschen, seines Leibes und seiner Bemühungen, das Leben zu organisieren. "Sie nimmt mich mit, die Traurigkeit der Körper" heißt es in der Beileidsbekundung eines Memento mori, das wie einige Epitaphe Grünbeins Gedichtband "Den Teuren Toten" entnommen ist.
Heidegger bezeichnete das Leben als "Sein zum Tode". (Und schon Notker Balbulus meinte: "media vita in morte sumus.") Leben und Tod bilden ein unteilbares Junktim, bei dem Letzterer auf der Gewinnerseite steht. Der Mensch ist unheilbar am Leben. Durs Grünbein schaut ihm beim Gang auf das Sterben zu. Die "Sekunde Leben", jener Komplex aus Verrichtungen der Biologie und metaphysischer Unsicherheit, ist eine Marginalie auf dem Zeitstrahl, die Zukunft "durch Nichts ersetzt". Schon dem "Introitus" kann man entnehmen, dass die Geburt der Beginn des Ablebens ist, eine Nachschubbewegung für den letzten Atemzug. Früh ausgesetzt, gibt es kein Zurück. "Mit den Tagen kommen die Tode."
Grünbeins Kondolenz ist die eines Sarkasten. Einer, der tief in sich konsterniert ist, dennoch aber mittels der Triebfeder eines Staunens sich die Welt nahe hält. Sie immer wieder neu zu beschreiben sucht, fast masochistisch auf der Suche nach elementaren Strukturen, auch den Besonderheiten. Das lyrische Ich, hinter der Maske eines sarkastischen Kindes verborgen, sieht sich einer "Flut quälender Kurzgeschichten von trügerischer Moral" ausgesetzt. Es "weiß längst, wie die meisten von ihnen ausgehen, und kann doch das Staunen nicht lassen."
Das führt zu einem hohen Ton der Verwunderung, gepaart mit staubtrockener Ironie, besonders in den Mors-Zeichen und Letogrammen. Grünbein stellt den Menschen Armutszeugnisse aus, "trist wie die Pappschilder an den Füßen mancher Leichen im Schauhaus" (Nachschrift zu "Den Teuren Toten").
In der Perpetuierung des Blicks wird die Totenreise allerdings leicht zum Rosenkranz, zur Wiederaufbereitungsanlage eines immer gleichen Themas. Gerade außerhalb der markanten Form der Epigramme oder knapper Gedichte besteht die Gefahr des Moralisierens. In einigen, bisher unpublizierten Texten ("Ich ging in der Stille") trifft man Gemeinplätze der Deprivation, einen Brecht'schen Zeigefinger oder dröge Sentimentalität, aufgezäumt an der flotten, aber nicht ganz frischen Pointe des Menschen als "zufällig denkendes Tier."
Ulrike Haage komponiert ein behutsames Myzel um die Texte. Die Anschläge von Vibraphon und Klavier sind wie Versfüße gesetzt. Hintergründig klingend, plätschernd, trippelnd. Die Grundstimmung bleibt von Anfang an meditativ, trotz der gelegentlich elektronischen Einhiebe, die die Reise wie eine Peitsche vorantreiben. Der im Ganzen unhektisch dahintreibende Sarkophag dieses Klangwerks öffnet Räume für kleine Arien, kurze Melodie-Schleifen oder Geräusche wie ein Kratzen im Hals des Synthesizers.
Der karge Klangteppich umspült den Text wie ein ruhiger Fluss den Nachen. Manchmal als ätherisches Knacken, manchmal als nachtmahrisches Flüstern, dann wieder als kinderliedleichte Musik. Dazwischen Aufbrüche von dezentem Sampling oder Dopplereffekten zwischen Arie und Rezitativ. "Reise, Toter" ist kein Hörspiel, sondern eine ehrfürchtige Hör-Spiegelung. Ein Nachdenken von Ton und Sprache.
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