Geschichte wird gemacht

Ruth Klügers Sicht auf das Verhältnis von Dichtung und Geschichtswissenschaft

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem Aufsatz "Auschwitz und die Geschichtswissenschaft - Überlegungen zu Kontroversen der letzten Jahre" des Historikers Nicolas Berg findet sich in einer Fußnote ein Koeppen-Zitat, und zwar aus dessen Roman "Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch". Der Historiker Berg möchte mit diesem in die Fußnote abgeschobenen Zitat die "deutende Rückschau der Historiker" auf Auschwitz mit dem "Erleben der Opfer" von Auschwitz zusammenführen und aufzeigen, dass (geschichts-)wissenschaftliche Thesen - über fünfzig Jahre nach den Vernichtungslagern und von Menschen erstellt, denen die "Gnade der späten Geburt" zuteil wurde - Bestätigung in Erlebnis- und Erfahrungsberichten der Opfer (aus geschichtswissenschaftlicher Sicht: Zeitzeugen) finden.

Scheinbar eine Marginalie, doch wird Bergs Fußnotenverweis höchst interessant, wenn man die Geschichte des Koeppen-Romans kennt: Wolfgang Koeppen zeichnete drei Jahre nach Kriegsende im Auftrag eines Verlags als eine Art Ghostwriter die Lebensgeschichte eines Münchner Juden auf, der jahrelang in einem Erdloch verborgen die Säuberungen im Ghetto überlebt hatte. Das Buch erschien unter dem Pseudonym Jakob Littner als Tatsachenbericht - Koeppens Name wurde in der Ausgabe nicht erwähnt -, war bald vergriffen und wurde vergessen. 1992 erschien das Buch erneut, diesmal unter Koeppens Namen. Der Autor war mittlerweile ein bekannter, u.a. von Marcel Reich-Ranicki geförderter Romancier geworden. Für die Neuausgabe hatte er eigens ein Vorwort verfasst, in dem er schildert, wie es zu diesem Anfang gekommen war.

Um was für ein Buch handelt es sich nun bei den "Aufzeichnungen aus einem Erdloch"? Der Inhalt der 1992er-Ausgabe ist identisch mit dem Inhalt der 1948er-Ausgabe, am Text hat sich nichts geändert, doch sein Verfasser ist 'ein anderer' geworden. Und aus dem Tatsachenbericht wurde damit ein Roman. Koeppen, der damals als Honorar Care-Pakete des Überlebenden aus den USA gesandt bekam, schreibt in seinem Vorwort: "Ich aß amerikanische Konserven und schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden. Da wurde es meine Geschichte." Koeppens Geschichte wird bei Nicolas Berg zu einem Verweis aus der Sicht der Opfer. Berg hält Koeppens Wiedergabe der Leidensgeschichte eines deutschen Judens für authentisch, glaubhaft, zitierbar. Ist dem so?

Ruth Klüger, 1931 in Wien geboren, wurde zusammen mit ihrer Mutter 1942 zuerst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz-Birkenau, gegen Kriegsende nach Christianstadt, ein Außenlager von Groß-Rosen, deportiert, von wo sie und ihre Mutter 1945 flüchten konnten. Zwei Jahre später wanderte Ruth Klüger in die USA aus, wurde dort Professorin für deutsche Sprache und Literatur. In ihrer 1992 erschienenen Autobiographie "weiter leben. Eine Jugend" berichtet sie eindrucksvoll von ihrer Kindheit im KZ, setzt sich darin auch mit dem Verhältnis von Sprache/Erzählung versus Erinnerung auseinander, hinterfragt Gedächtniskonstruktionen und thematisiert generell das Schreiben über den Holocaust, widerlegt im Besonderen Adornos Diktum, dass Gedichte schreiben nach Auschwitz barbarisch sei.

Im Jahr 2000 wird die Literaturwissenschaftlerin in ihre Geburtsstadt Wien eingeladen, um dort im Rahmen einer Vorlesungsreihe einen Vortrag über Dichtung und Geschichte zu halten. Der Band "Dichter und Historiker: Fakten und Fiktionen" dokumentiert ihre Rede.

"Da wurde es meine Geschichte" - dieser Satz von Wolfgang Koeppen sei "verräterisch", behauptet Ruth Klüger. Sie stellt ihre Thesen nicht nur aus der Sicht der Literaturwissenschaftlerin auf: Sie war Zeitzeugin, sie weiß, wie es ihr ergangen ist. Und sie kennt die wissenschaftliche Literatur, die Autobiographien und Fiktionen über den Holocaust genau, und aus der Verschränkung zwischen Zeitzeugenschaft und Literaturwissenschaft formuliert sie ihre Ansichten und Urteile.

Worin besteht der Unterschied zwischen der Ausgabe von 1948 und der Ausgabe von 1992: "Der Unterschied liegt darin, daß das eine ein Buch von einem Juden und das andere ein Buch von einem Nichtjuden ist." Koeppen hat sich die Geschichte des deutschen Juden zu Eigen, hat daraus einen Roman gemacht, der es - in der geschichtlichen Faktizität - "mit der Wahrheit nicht so genau nimmt". Klüger bezeichnet das Ende des Romans als "weinerliches Versöhnungspathos".

"Wenn das nun die Meinungsäußerung des jüdischen Überlebenden sein soll, in Wirklichkeit aber die Parolen eines deutschen Nichtjuden sind, so handelt es sich schlicht um Lüge, nicht um Fiktion."

Die Ausgabe von 1992 sei keine Lüge mehr, "sondern Fiktion, ein Roman von Wolfgang Koeppen". Dem heutigen Leser wird nun kein Tatsachenbericht wie noch 1948 vorgegaukelt, er weiß, womit er es zu tun hat, nämlich mit einer literarischen Umsetzung der Lebensgeschichte eines Überlebenden; eines deutschen Juden, der das Ghetto und die Lager überstanden hat. Klüger bemerkt trocken: "Dem Ausgewanderten soll das Buch angeblich nicht gefallen haben."

In Klügers Wiener Rede nimmt die Analyse der "Aufzeichnungen aus einem Erdloch" nur einen geringen Teil ein, doch scheint dieser Teil das Wesentliche auszusagen: Geschichte (in der Erinnerung daran) wird gemacht. Klüger gibt eine konstruktivistische Lehrstunde, beginnend beim (Schulbuch-)Klassiker Friedrich Schiller, dem Dichter und Historiker in Personalunion, endend bei Wilkomirskis angeblicher Autobiographie "Bruchstücke", ein Bericht über eine Kindheit in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, ein Buch, das Authentizität vorgibt, doch Fiktion ist, da sein Autor weder Jude noch je in einem KZ gewesen ist; der Autor hat seine Kindheit in der Schweiz verbracht, ein Umstand, der allerdings erst nach der Veröffentlichung des von der Kritik gefeierten Buches - oder soll man sagen: des Dokuments - ans Tageslicht kam und für einen Eklat sorgte. Ferner geht Ruth Klüger auf Goethes "Egmont" ein, auf Kleists "Kohlhaas", auf "Dantons Tod" und auf den "Lenz", beides von Georg Büchner, dessen Nachfolger im Geiste Ruth Klüger in Peter Weiss sieht, konkret: in dessen Dokumentardrama "Die Ermittlung". Geschichtsträchtiger Stoff, und Ruth Klüger spitzt zu: "Man könnte sagen, Vergangenheitsbewältigung ist seit Jahrhunderten ein deutsches Anliegen."

Schade, dass bei ihrem kurzen Gang durch die Jahrhunderte Lessing fehlt. Ihr Wort zum "Nathan" hätte interessiert.

"In der Debatte, ob Dichtung der Geschichte oder, umgekehrt, Geschichte der Dichtung zu dienen hat", findet sich keine Antwort. Man kann nur mit Ruth Klüger konstatieren, dass Dichtung, die sich um der Eitelkeit und der Selbstdarstellung willen der Geschichte bedient, unweigerlich in Kitsch und Lüge enden wird. Harte Worte, doch Literatur, die ihren Stoff in der Geschichte sucht, muss sich an ihrer Interpretation der Geschichte messen lassen. Dass die Geschichtsschreibung sich in manchen Fällen selbst als Konstrukt entlarvt, entlastet nicht den Schriftsteller, denn "verwechseln soll man das eine nicht mit dem anderen, das Ding mit der Deutung". Beide - der Schriftsteller und der Historiker - müssen sich dessen bewusst sein. Und, um auf den Anfang dieser Rezension zurückzukommen: Auch der Historiker, der sich auf (literarische) Quellen beruft, muss reflektieren, wann es sich um Fakten, und wann um Fiktion handelt. Nur wenn die Literatur- und die Geschichtswissenschaft voneinander lernen, so Klügers Fazit, kann Geschichtsschreibung mehr als Konstruktion sein.

Titelbild

Ruth Klüger: Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen.
Picus Verlag, 2000.
64 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3854523734
ISBN-13: 9783854523734

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