Veränderung der Sichtverhältnisse

Birgit Vanderbekes Erzählung „Ich sehe was, was du nicht siehst“

Von Daniel LinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Linke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ formulierten Wunsch, Birgit Vanderbeke möge endlich einen Roman schreiben, verweigert sich die in Frankreich lebende Autorin weiterhin standhaft. Sie beweist größeren Mut, indem sie nach ihrer erfolgreichsten Erzählung „Alberta empfängt einen Liebhaber“ eine weitere nachreicht. Das Wagnis – so viel vorweg – gelingt, denn Vanderbeke hat eine kaum für möglich gedachte stilistische Steigerung ihrer so eigenen feinsinnigen Halbsatzironie und Satzkaskaden abgeliefert. Doch worum geht es?

Es gibt eine Reihe von Träumen, die man im Laufe eines Lebens hegt. Der Traum vom Weggehen ist einer der häufigsten. Einfach den Ort des Lebensmittelpunktes eintauschen gegen einen unbekannten, abenteuerbehafteten. Eine Flucht vor den Zivilisationskrankheiten und dem eingefahrenen Alltag. Das Zentrum des Lebens ist schließlich relativ! Was Alberta mit ihrem Liebhaber noch vorläufig mißlingt, nämlich die Flucht aus dem Alltag mangels Einverständnis über das Ziel, gelingt nun Birgit Vanderbekes Ich-Erzählerin. Die Kunsthistorikerin und Rundfunkautorin einer Kinderserie mit dem Titel „Ich sehe was, was du nicht siehst“, bündelt ihre Kraft und realisiert ihren Traum, getrieben von der Vorstellung, sonst an dem Ort stagnativ zu verharren, an dem sie lebt. Für ihre Umwelt ist dies kaum nachzuvollziehen. „[W]ollen Sie oder müssen Sie weggehen, und ich sagte, ich glaube, ich sollte.“

Ortsverschiebung, aber nicht innerhalb Deutschlands, eine Landesgrenze muß mindestens zu überwinden sein. Die äußeren Umstände sollten sich grundlegend verändern, damit der Ballast des alten Ortes abgeschüttelt werden kann. Kulturwechsel total. Es zieht sie mit ihrem Sohn von der pulsierenden Hauptstadt Berlin in ein kleines französisches Dörfchen. Später wird noch ihr Lebensgefährte René nachfolgen, ein Sachverständiger für gefälschte Gemälde.

Es ist ein Umzug aus der Anonymität verschlossener Wohnhinterhöfe in eine Welt voll von gelassener und hilfsbereiter Freundlichkeit. Was sie zurückläßt, sind die Ängste der anderen, skurrile Freunde mit Stasie-Paranoia, die Welt der Anrufbeantworter, einen ausgelaugten Blick auf Gegenstände des Alltags und der Kunst sowie sinnentleerte Kommunikationen. „Einmal sagte ich, haben Sie eine Ahnung, wovon wir sprechen, und er sagte, überhaupt nicht, ich dachte, vielleicht Sie.“ Ein scheinheiliger Neid wird Begleiter ihres Umzugs; „Die einen sagten, du wirst mir fehlen. Es stimmte nicht, aber es war freundlich. Die anderen sagten, du hast es gut, und das stimmte auch nicht, […]“.

Den Möbelwagen vollgepackt, die Katze verstaut, dem Jungen ein Hund versprochen – das Abenteuer kann beginnen. Ein langer Tunnel, ein kurzer Tunnel, immer gerade aus und dann rechts, so scheinbar einfach ist das mit dem Weggehen. Wirklich? Das neue Haus ist völlig unvollkommen, und doch liegt gerade darin der Reiz: Skorpione an der Wand, Spinnen im Badezimmer, Kälte in den Räumen, umstürzende Mauern, drohende Waldbrände, wochenlange Stürme – alles nicht so schlimm wie die Heimsuchung der Schreckensbilder aus der zurückgelassenen Welt in Form von unerfreulichem Sommerbesuch. Entfernte Bekannte belästigen die Glücklichen. Großspurig, spießbürgerlich, besitzergreifend besiedeln und besudeln sie das neue Heim, bauen es in Gedanken um, mäkeln am Wein und bieten selber nur fades Dosenbier. Kurz: Die Zerstörung der paradiesischen Idylle des Neuen, des Unvollkommenen droht. Als sich die Ich-Erzählerin in einem Anflug von Mut von ihrer Schicksalsergebenheit befreit und den unerwünschten Eindringlingen die Abreise befohlen wird, spürt sie, einen großen Schritt auf dem Weg in die neue Heimat gemacht zu haben. Langsam beginnt sich die Sichtweise auf die Dinge des Alltags zu verändern. Der Blick muß zunächst verschwommen werden, um später um so schärfer die veränderte Perspektive der Gegenstände vor Augen zu bekommen. „Es lag nicht an der Platanenchaussee. Es lag an mir. Ich konnte plötzlich den Zauber daran nicht mehr finden. Ich merkte, daß ich bisher einen großen Teil meiner Zeit damit zugebracht hatte, Dinge, die ich gesehen hatte, nicht gesehen zu haben, und daß ich jetzt vermutlich einen großen Teil meiner Zeit damit zubringen würde, es umgekehrt zu machen und Dinge, die mir weggeguckt waren, wieder sehen zu können. Ich brauchte noch einige Tage, bis ich die Platanenchaussee wieder sehen konnte und noch eine Menge anderer Dinge, und als ich soweit war, wußte ich, daß ich wirklich weggegangen war und daß das Weggehen sehr lange dauert“. Das Ankommen beansprucht nicht weniger Zeit.

Immer wieder konfrontiert Vanderbeke ihre Ich-Erzählerin mit den Tücken des Alltags in der neuen Heimat und läßt sie im Laufe der Handlung ein ironisches Abwehrverhalten erlernen. Die alten Erfahrungsmuster greifen nicht mehr. Kinderkleidung wird gekauft, wenn die Schule anfängt, weil es alle so machen. Städte werden gesperrt, weil alle feiern. Holz wird gesammelt für den Winter, Steine werden gesammelt für die Hausmauern, Pilze für das Essen. Was eben noch verboten, ist nun selbstverständlich und erlaubt. Die neue Gesellschaft wird als eine ursprünglichere, unverdorbenere Gesellschaft von Sammlern und Jägern vorgeführt, doch das entscheidende ist auch hier die Blickveränderung. Um „nach Beute Ausschau zu halten, bekommt man einen ganz speziellen Blick“. Was ist brauchbar, was nicht; was ist Täuschung, was ist Realität. Ich sehe was, was du nicht siehst.

Die Leichtigkeit des Seins beginnt vollkommen zu werden, als René hinzukommt, aber auch das Zusammenleben muß, nach Wochen der Einsamkeit, in der neuen Umgebung erlernt werden. „[I]ch bin dir doch wohl nicht fremd, und ich sagte, du bist mir nicht fremd. Ich glaube, wir sind mir fremd. René sagte, ach weißt du, ‚Wir‘, das fängt doch immer erst an, siehst du das nicht.“ Die Beziehung muß aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. „Es ist sonderbar“, sagt René, „daß man Dinge sehen kann, ohne sie wahrzunehmen. Mal gespannt, was wir auf die Weise noch so entdecken.“

Die Verschmelzung mit der neuen Umgebung beginnt, als die Sichtweisen der alten nicht mehr zu rekonstruieren sind. Als die Ich-Erzählerin eine Sendefolge ‚Paul Klee für Kinder‘ schreibt, bemerkt sie, daß sie Klee nicht mehr versteht. Ihren Klee, mit dem sie ihre frühere Wohnung praktisch tapeziert hatte! „[G]laubst du, etwas, was einem so vertraut sein kann, kann einem genau zur gleichen Zeit vollkommen fremd sein“. Erst langsam lernt sie zu begreifen, daß sie eine Welt mitgebracht hatte, „die hier nicht galt, und daß ich mit meiner mitgebrachten oder wirklichen Welt die Welt hier nicht begreifen konnte, nicht das Heiße, nicht das Kalte, nicht das Blau und nicht das Gelb.“ Erst als das Gefühl aufkommt, daß es ihr „nichts ausmachte, daß die eine Welt und die andere und die wirkliche nicht zusammenpassen“, erst in diesem Moment ist sie angekommen. Wenn Birgit Vanderbeke jährlich eine solch wunderbare Erzählung hervorzaubert, werden wir auch in Zukunft gerne auf den geforderten Roman verzichten.

Titelbild

Birgit Vanderbeke: Ich sehe was, was Du nicht siehst.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 1999.
121 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3828601006

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch