Surrealistische Comicwelten

Grafische Adaption eines John-Harrison-Romans

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich ein wesentlicher Bruch in der erzählenden Literatur vollzogen. Die Stadt in all ihren Facetten war in die Prosa eingedrungen. Neben einigen frenetischen Enthusiasten fanden sich aber auch kritische Stimmen, die den langsamen Zerfall der ihnen bekannten Welt in düsteren Städtebildern umsetzten.

Auch M. John Harrison hat sich der Stadt angenommen. In seiner Trilogie entwirft der Brite das Bild einer kafkaesken Stadt namens Viriconium. Sie zerfällt in eine Unter- und eine Oberstadt; in ersterer bricht eine mysteriöse Seuche aus, die auch vor Gebäuden und Straßenzügen nicht Halt macht: Die Menschen, aber auch die Häuser, die von der Krankheit befallen sind, gleichen sich zunehmend. Von zentraler Bedeutung ist der Portraitmaler Ashlyme, der sich in die Künstlerin Audsley verliebt hat. Er kommt aus der Oberstadt, sie aus der wenig privilegierten Unterstadt. Seine Versuche, die Geliebte notfalls auch mit Gewalt aus dem dahinsiechenden Viertel zu retten, sind zentraler Bestandteil der Handlung.

Der grafische Wagemut, mit dem sich Jüdt der unbequemen Vorlage widmet, brachte ihm schon zum zweiten Mal nach "Heimsuchung" (1996) eine Nominierung für den Max-und-Moritz-Preis ein. Die Technik der couleur directe beherrscht Jüdt meisterhaft, er entwickelt sie weiter, indem er den Bildraum, anders etwa als Enki Bilal, fast schon brutal cadriert. Dagegen bricht er die Differenz von Tableau und großflächigem Hintergrund umso wirkungsvoller auf, wenn er Erinnerungsfetzen seiner Protagonisten als Reflexionsfläche für das Spiel mit den Möglichkeiten heranzieht.

Damit hat er ein der Romanvorlage adäquates Vokabular gefunden, das sowohl den Verfallsprozess als auch die Angleichung der Menschen und Häuser auszudrücken vermag.

Er transpositioniert die von Agonie geprägte Welt Harrisons in ein Zeichensystem, das von Verfallenheit nicht mehr spricht, sondern sie in teils subtilen, oft jedoch offenkundigen Bildern zum Ausdruck bringt. Anklänge an "Hoffmanns Erzählungen" sind unübersehbar, und dennoch reizt Jüdt das Vokabular des Comics entscheidend in Richtung Surrealismus aus. Wo "Bild und Sprache den Vortritt haben" (Walter Benjamin), handelt der Comic die Tragödie zwischen beiden Darstellungsformen neu aus: Sie präsentiert sich vor allem als Tragödie der Kommunikation. Dass sich die Liebenden nicht näher kommen, dass sie in disparaten Stadtteilen leben: das alles visualisiert Jüdt in einer stringenten Farbmetaphorik, die zwischen schwelgerischer Dichte und organischer Graumalerei wechselt. Ganze Seitenfolgen sind den changierenden Farbpaletten unterworfen. Dass dabei die makaberen Momente der Erzählung noch befördert werden, macht den besonderen Charme des Bandes aus, wird aber nie überstrapaziert.

Somit erscheint die Stadt bei Jüdt und Harrison nicht als physikalischer Ort, sondern als Rahmenbedingung für den Traum des Lebens im 20. Jahrhundert im archetypischen Milieu der Stadt. Jenseits der Historik angesiedelt, propagiert das Organ Stadt den Tod der Geschichtlichkeit und begibt sich auf die Suche nach neuen Mythen.

Titelbild

Dieter Jüdt / John M. Szenario Harrison: Viriconium.
Übersetzt aus dem Englischen von Rainer Mantz.
Verlag Sackmann und Hörndl, Hamburg 2000.
64 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3894740884

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