Ruhe als Lebensideal eines stillen Revolutionärs

Uwe Schultz' Biographie René Descartes

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die möchte man bereits nach zwei, drei Seiten wieder aus der Hand legen. Die Descartes-Biographie von Uwe Schultz gehört dazu, lässt die Einleitung doch eine Hagiographie erwarten, die einem jegliche Lust weiterzulesen verleidet. Nicht, dass Descartes kein bedeutender Philosoph auf der Schwelle zur Neuzeit gewesen wäre, nicht, dass seine Philosophie für das Denken der Aufklärung unwesentlich gewesen wäre, doch Schultz' Lobpreisung kennt keine Grenzen. Dass es sich bei Descartes um einen "frühen Faust" gehandelt habe, mag durchaus noch angehen. Dass er schon früh den "Tod Gottes" verkündet und so - wie Schultz offenbar suggerieren will - Nietzsche vorweggenommen habe, trifft hingegen nicht zu. Dass der Autor zudem Descartes' Wissen um die "Verantwortung des menschlichen Denkens für den menschlichen Nutzen" lobt, klingt in heutigen Ohren eher bedenklich. Das weiß allerdings auch Schultz. Vorbehalte gegen die "Janusköpfigkeit" des Denkens Descartes' hält er jedoch offenbar für kleingeistig, denn Descartes' "Optimismus eines sich selbst kontrollierenden und die Welt entwerfend-erobernden Denkens" habe "über mehr als drei Jahrhunderte der modernen Welt ihre Gestalt gegeben" und somit "auf allen Feldern der Forschung" den "Fortschritt des Wissens" und "seines Nutzens" vorangebracht. Dieser durch Descartes verkörperte "Triumph der Vernunft des Menschen", so versichert Schultz, sei "noch lange nicht an sein Ende gelangt." Das klingt allzu sehr nach einer der obsolet gewordenen Metaerzählungen vom geschichtlichen Fortschritt der Menschheit, deren Besonderheit darin liegt, dass er - fast - ausschließlich Descartes zu verdanken sei.

Mit dem Ende der Einleitung legt Schultz erfreulicherweise den überschwänglichen Gestus weitgehend ab und beschreibt Leben und Werk seines Protagonisten in eher sachlichem Ton.

Das Leben des 1596 in den mittleren Hochadel Frankreichs hineingeborenen Descartes zu einer lesbaren Biographie zu verschriftlichen, dürfte sich dabei als nicht ganz einfaches Unterfangen erwiesen haben. Anders als Kant, der sich seine Welt- und Menschenkenntnis von Königsberg aus erlas, kam Descartes zwar weit in Europa herum und lebte unter anderem in Italien, Deutschland, den Niederlanden und zuletzt für kurze Zeit in Schweden, wo er 1650 starb. Doch verlief sein Leben ähnlich ereignislos wie das des Transzendentalphilosophen. Wo immer Descartes sich aufhielt, führte er das Dasein eines "stillen Revolutionärs", dem, wie Schulz aufzeigt, "Ruhe als Lebensideal" galt und der sich "im Zweifel gegen den Konflikt und für die Kontemplation" entschied. Descartes selbst versicherte, dass er "für nichts auf der Welt möchte, daß eine Abhandlung von mir herauskäme, in der sich das geringste Wort befindet, das von der Kirche missbilligt werden würde". Angesichts Giordano Brunos Ende auf dem Scheiterhaufen, das Descartes vor Augen stehen musste, handelt es sich hierbei allerdings um alles andere als eine unverständliche Haltung.

Damit Schultz von einem "gefährlichen Abenteuer" Descartes erzählen kann, ein einziges Mal wenigstens, muss er schon eine Räubergeschichte auftischen: wie Descartes nämlich einmal unter Piraten fiel, die ihm nachdem Leben trachteten. Ansonsten jedoch verlief Descartes Leben in jeder Hinsicht in sehr gemächlichen Bahnen. So versicherte er als etwa 30-jähriger, "von der Liebe bis zur Stunde noch nicht heimgesucht worden zu sein". Seine Eltern versuchten schließlich, ihn "in den Stand der Ehe zu bringen" - vergeblich. Allerdings ließ sich Descartes später in den Niederlanden und "wohl nur dies eine Mal in seinem Leben in eine intime Beziehung zu einer Frau verwickeln", aus der eine früh verstorbene Tochter hervorging. Kurz: Das Leben Descartes' ist für einen Biographen nicht allzu ergiebig. Daher behilft sich Schultz mit ausführlichen Schilderungen zeitgeschichtlicher Ereignisse. Ohne sie lässt sich zwar keine Biographie schreiben, doch verliert sich der Autor gelegentlich in den belanglosesten Nebensächlichkeiten, insbesondere dann, wenn sie etwas suspence versprechen, also gerade das, was Descartes' Leben fehlte. So wird die für die Zeitgeschichte und für Descartes Leben wichtige Ermordung Heinrich IV bis in die bedeutungslosesten Einzelheiten hinein geschildert: man erfährt, dass der Monarch in einer Kutsche reiste, die vor einem Hindernis halten musste, dass unversehens ein Mann auf eine Radspeiche sprang, auf Heinrich IV einstach und ihn drei Mal traf, dass der Getroffene nach der ersten Verwundung "ich bin verletzt" rief, dass ein vierter Stich am Arm eines Mitreisenden abglitt, dass der Mörder rothaarig war und etliches mehr. Schultz pflegt solche zeitgeschichtlichen Ereignisse unabhängig von ihrer allgemeinen Bekanntheit und ihrer Relevanz nur in den wenigsten Fällen zu belegen.

Einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Buches verwendet der Autor sehr zu Recht auf die Darstellung von Descartes' Werk. Zwar behandelt er auch die physikalischen Arbeiten seines Protagonisten in der wünschenswerten Ausführlichkeit, doch konzentriert er sich vornehmlich auf dessen philosophische Hauptwerke, also den "Discours de la methode" und die "Meditationes de prima philosophia", die er über mehrere Seiten hinweg paraphrasiert. Schultz' Interpretationen und Wertungen mag man jedoch nicht in jedem Falle folgen. Philosophisch, so meint er etwa, sei Descartes "den Weg des Zweifels zu Ende gegangen", habe alles bezweifelt, was sich nur bezweifeln lasse, bis hin zu der unabweisbaren Feststellung, "daß der Zweifelnde im Zweifelsfall unzweifelhaft zweifelt also denkt". Doch war schon der mit Descartes eng befreundete Martin Mersenne der Auffassung, dass sich hinter Descartes' berühmter Sentenz "cogito ergo sum" ein Syllogismus verberge. Zwar bestritt Descartes dies und verteidigte sich dahingehend, dass man mit der Behauptung "ich denke, also bin ich, oder existiere ich" vielmehr etwas "durch sich selbst Bekanntes" ausdrücke. Trifft aber Mersennes Interpretation zu, so ist Descartes Erkenntnis nicht so voraussetzungslos, wie er und mit ihm sein Biograph meinen. Dann geht sie von der Gültigkeit syllogistischer Schlüsse aus. Sollte es sich bei dem "cogito ergo sum" aber um einen Syllogismus handeln, liegt zudem die Frage nahe, ob hier nicht vielmehr ein Paralogismus in Form eines Zirkelschlusses vorliegt, da im Major als gegeben gesetzt ist, was die Conclusio doch erst beweisen soll: das Ich nämlich. Doch auch unabhängig davon, ob es sich bei Descartes Topos um einen Schluss handelt oder nicht, ist hier die Möglichkeit zu zweifeln keinesfalls an ihr Ende gelangt, wie Lichtenberg zeigte, der selbst noch das "Ich denke" bezweifelte: dies zu sagen sei schon "zu viel" und nur ein "praktisches Bedürfnis".

Hier folgt Schulz Descartes also allzu kritiklos. Auch in einem anderen Punkt überzeugt er nicht. Seine Interpretation von Descartes Zweifel an der Existenz Gottes dürfte sich kaum als haltbar erweisen: der gläubige Katholik habe zwar unwillentlich, aber "souverän und zweifelsfrei die Nichtexistenz Gottes bewies[en]". Tatsächlich bewies Descartes jedoch nur die Möglichkeit der Nichtexistenz Gottes. Und wenn Schultz an anderer Stelle lobend hervorhebt, Descartes habe um die Gefahr der "Gleichsetzung von Möglichkeit und Wirklichkeit" gewusst, so ist ihm selbst vorzuhalten, dass er hier den Unterschied zwischen dem Beweis der Möglichkeit des Nichtseins und dem Beweis der Wirklichkeit des Nichtseins nicht sieht.

Titelbild

Uwe Schultz: Descartes. Biographie.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001.
378 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3434505067

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