Bleiben ist nirgends

Der Schauspieler Edgar Selge trägt die "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke vor

Von Klaus H. OrthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus H. Orth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Und wir: Zuschauer, immer, überall,

dem allen zugewandt und nie hinaus!

Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.

Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

Das Leben ist bestimmt durch Polaritäten: Kindheit und Alter, Schönheit und Schrecken, Furcht und Freude - sie beherrschen das Sein, begleiten uns. Zwischen jenen Extremen suchen wir, "die Schwindendsten", uns unseren Weg auf dieser Welt. Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" kreisen um jene existenzielle Suche, fragen nach dem Sinn des Seins angesichts des unausweichlichen Vergehens. Die 1912 auf Schloss Duino begonnene und 1923 abgeschlossene Sammlung von zehn Klagegedichten hat Der HörVerlag in der Reihe "Klassiker.Welten" als Audio Book herausgegeben.

Präsentiert werden die Verse von Edgar Selge. Er versteht es, den verschiedenen Stimmungen der Elegien Farbe zu geben. Der Schauspieler liest nicht aus dem Rilke-Text, er trägt die Zeilen frei vor, nimmt sich Zeit, setzt Pausen, die helfen, das verwinkelte Gedankengebäude, das Rilke entwirft, zu durchschreiten. "Jeder Engel ist schrecklich", warnt der Sprecher mit Rilke den Hörer, sich nicht von der Schönheit der Himmelswesen, die er als "fast tödliche Vögel der Seele" anruft, blenden zu lassen. Denn sie können nicht unterscheiden, "ob sie / unter Lebenden gehn oder Toten", sind wie unzerbrechliche Spiegel menschlicher Existenz, kalt und seelenlos.

Unter der Regie von Klaus Buhlert rezitiert Selge vorsichtig und unprätentiös, nimmt sich als Interpret weitgehend zurück, gestaltet das Rezitat als direktes Sprechen an ein Gegenüber, den Hörer, der jenen Weg mitbeschreiten darf, der weisungsgemäß in die Innerlichkeit führt: "Nirgends [...] wird Welt sein, als innen." Das Äußerliche ist dem Verfall anheim gegeben. "Bleiben ist nirgends" ­ so das Credo.

Im Begleitbuch ist Selge zitiert: "Ich denke, Lyrik sollte man hören. Sprechen und Hören von Lyrik erinnert daran, dass es hinter jeder Dichtung zuallererst eine Stimme gibt." Und so erweist sich das Audio Book als treffliches Medium, den emotionsreichen Elegien eine Stimme zu geben, die die allgemeine Vergänglichkeit bereits im Akt der Rezeption verdeutlicht. Oder wie es bei Rilke heißt: "Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir / atmen uns aus und dahin."

Titelbild

Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. 1 MC. Gelesen von Edgar Selge.
Der Hörverlag, München 2000.
17,90 EUR.
ISBN-10: 3895841803

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