Wenn die Unterröcke knistern

Thomas Hürlimanns umstrittene Novelle "Fräulein Stark"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon vor ihrer Veröffentlichung hatte Thomas Hürlimanns Novelle "Fräulein Stark" für viel Aufregung rund um den Handlungsschauplatz St. Gallen gesorgt. Die heftigen Kontroversen entzündeten sich an der Frage, inwieweit der 50-jährige Autor authentisch über seine eigene Vergangenheit, über seinen Onkel, den heute 87-jährigen Stiftsbibliothekar Johannes Duft und dessen Haushälterin namens Stark geschrieben hat. Die katholische Kirche befürchtete Rufschädigung. Heftiger entzündete sich die Diskussion am Vorwurf Marcel Reich-Ranickis (im "Literarischen Quartett"), die Novelle habe einen antisemitischen Unterton und die Literaturkritik habe den "jüdischen Hintergrund" der Novelle und ihres Erzählers Katz übersehen.

Ein 12-jähriger Junge verbringt die Sommerferien in der strengen Abgeschiedenheit einer Stiftsbibliothek, als Vorbereitung für den im Herbst anstehenden Wechsel in die Klosterschule - alles unter der Obhut von Onkel Johannes und der gestrengen Fräulein Stark. Nicht der Onkel aber, der gern ausgedehnte Zechtouren in die Wirtshäuser unternimmt, sondern die pedantische Haushälterin nimmt die Rolle der Sittenwächterin ein.

Immer wieder muss sie dem Stiftsvorsteher Klagen über den Neffen vorbringen. "Unkeusche Blicke" sind zumeist der Anlass, denn der Junge hat Freude daran, reifen Frauen unter die Röcke zu blicken. Sein Ferienjob als "Pantoffelministrant" gibt ihm dazu reichlich Gelegenheit, denn seine Aufgabe ist es, den Bibliotheksbesuchern in die bereitstehenden Filzpantoffeln zu helfen.

Der Knabe entwickelt außerdem ein ausgesprochen feines Gespür für Gerüche, wie man es etwa aus Patrick Süskinds Erfolgsroman "Das Parfüm" kennt. Thomas Hürlimann stilisiert diese pubertäre Affinität zu Gerüchen und schüchternen Blicken und greift zu einer poetisch überhöhten Sprache. Der Junge "hört aus dem Knistern von Unterröcken das Innere der Geheimnisse", es "knistern weiß bestrumpfte Innenschenkel" - und das Geräusch "fällt auf ihn herab wie ein Sternenregen." Diese Form der Überpoetisierung befremdet an einem Ort, wo die nüchterne Ordnung der Kirche herrschen soll und der Onkel dem Neffen wiederholt den sinnträchtigen Satz "Nomina ante res" einhämmert. Geschickt kontrastiert Thomas Hürlimann puritanische Sprödigkeit mit lustvoller Weltlichkeit.

Wie schon in seinem Vorgängerwerk "Der große Kater" (1998) spielt auch hier die Metaphorik der übermachtigen, zerstörerischen Vaterfigur eine große Rolle. Umstritten war in der Diskussion auch, inwieweit der 50-jährige Autor authentisch über die eigene Vergangenheit, über seinen Onkel, den heute 87-jährigen Stiftsbibliothekar Johannes Duft und dessen Haushälterin Stark geschrieben habe. Für den Leser mögen diese Diskussion nur von nachrangiger Bedeutung sein; anders sehen es vor allem orthodoxe Kreise, die durch Hürlimanns Novelle um den guten Ruf des Kirchenstifts fürchten.

Die Familiengeschichte, in der ein pubertierender Knabe seine Sexualität und seine jüdische Herkunft kennenlernt, erscheint wie ein Bericht aus einer fernen Welt. Die Aufregung um den angeblich darin verborgenen Antisemitismus wird sich legen, und schon bald wird die von Hürlimann wiederholt erwähnte Heilige Wibronada, die Schutzpatronin aller Bibliotheken, ihre schützenden Hände über dieses Buch entfalten.

Titelbild

Thomas Hürlimann: Fräulein Stark. Novelle.
Ammann Verlag, Zürich 2001.
192 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 325060075X

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