Wo Cultural Studies drauf steht, sind Unterschiede drin

Zwei instruktive Reader zu Cultural Studies

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschlands universitären Metropolen wie Hamburg oder Berlin boomen cultural studies ebenso wie Kulturwissenschaft(en) längst. Nur in so mancher Hochschule der bundesdeutschen Provinz haben sie noch nicht so recht Fuß fassen können. Nun sind aber zwei einführende Reader erschienen, die dazu beitragen könnten, sie auch hier zumindest bekannter zu machen. Da ist zum einen der Band "Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung", herausgegeben von Roger Bromley, Udo Göttlich und Carsten Winter, und zum anderen "Die kleinen Unterschiede". Der Cultural Studies-Reader", den Jan Engelmann herausgegeben hat. Die Ähnlichkeit der Titel legt die Annahme nahe, daß durchaus auf die Publikation eines der beiden Bücher hätte verzichtet werden können. Schaut man jedoch etwas genauer hin, wird deutlich, daß sie sich eher ergänzen als überschneiden.

Der von Bromley u.a. herausgegebene Band enthält, abgesehen von dem einleitenden Text der beiden deutschen Herausgeber, lediglich Beiträge englischsprachiger Autoren (es handelt sich ausnahmslos um Männer), die für die wichtigsten Etappen der cultural studies vom Ende der fünfziger bis zu Beginn der neunziger stehen. Hingegen wurden in "Die kleinen Unterschiede" ausschließlich Texte der letzten zehn Jahre aufgenommen. Zudem kommen zahlreiche deutsche AutorInnen zu Wort. Eine Lektüre läßt schnell weitere Differenzen deutlich werden.

Bromley liefert in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Buches zunächst einen kurzen Abriß der Entwicklungsgeschichte der britischen cultural studies, deren Entstehung Ende der fünfziger Jahre ganz im Zeichen der "Klassenperspektive" stand. Ausgehend von marxistischen Theorien strebten ihre Gründerväter R. Hoggart, R. Williams und E.P. Thompson eine "Demokratisierung der Kultur" an. Mit Stuart Hall setzte seit den siebziger Jahren in Auseinandersetzung mit den wiederum marxistischen Theoretikern Gramsci und Althusser einerseits und Lacan und Foucault andererseits ein Paradigmenwechsel ein: Dem marxistische orientierten Kulturalismus trat der Strukturalismus zur Seite. Je näher die Gegenwart rückt, umso stärker läßt Bromley kritische Stellungnahmen in seine Darstellung einfließen, um zuletzt ganz in die Darlegung der eigenen Position überzugehen. So moniert er den "Einfluß postmodernistischer Theorien, denen es gelegentlich an historischer Genauigkeit" fehle. Doch ist es Bromleys Kritik selbst, die vage und nur schwer greifbar bleibt: Der Einfluß postmoderner Theorien habe eine "Überbewertung der Semiologie und des Textes" zur Folge gehabt und die "überstrapazierte Metapher des 'Lesens'" sei weit über ihre "analytische Brauchbarkeit hinaus ausgedehnt" worden. Leider verschweigt er, an welche Theoretiker und Texte sich seine Kritik richtet. Auch die insbesondere für die cultural studies der USA grundlegenden Kategorien gender, class und race verfallen seinem Verdikt. Statt ihrer schlägt er Hybridität und Synkretismus vor. "Hybridität" meint, daß sich kulturelle Identitäten und Alteritäten unauflöslich durchdringen. Im Unterschied zu "Hybridität" hebt "Synkretismus" die Relevanz "aktive[n] Handeln[s]" hervor. Ein Vorteil beider Begriffe bestehe darin, daß sie den "Prozeß der Globalisierung nicht bloß [sic!] monolinear oder universal" auffassen, sondern der "Vielgestaltigkeit des kulturellen Wandels" Rechnung tragen würden. Seine implizite Kritik, daß die Analysekategorien gender, class und race dies nicht leisten könnten, ist allerdings unzutreffend, wie zahlreiche Untersuchungen belegen, die sich dieser Kategorien bedienen.

Zu Beginn des zweiten einleitenden Beitrags betonen Udo Göttlich und Carsten Winter, daß die Rezeption der cultural studies in Deutschland erst am Anfang stehe. Engelmann hingegen spricht in seiner Einleitung zu "Die kleinen Unterschiede" wohl mit mehr Recht von einer regelrechten "Import-Euphorie". Von Göttlich und Winter werden cultural studies als "Projekt" mit vielgestaltigen Methoden und Theorien beschrieben, deren "Formationen" ihre Gemeinsamkeit ausmachen. Formationen sind "Netzwerke", die aus "Personen und der Verbindung von Texten und Personen" über verschiedene Diszipline hinweg bestehen. Zwar, so Göttlich und Winter weiter, hat der Ruf nach Inter-, Multi- und Transdisziplinarität mit dem Versuch der cultural studies einer "disziplinären Verortung zu widerstehen" kaum etwas zu tun, doch betreiben sie eine "radikale Kontextualisierung". Die Einleitung schließt mit Hinweisen auf grundlegende Unterschiede zwischen den cultural studies und den deutschen Kulturwissenschaften. Erstere sind ein Projekt, das "unterschiedliche disziplinäre Perspektiven mit theoretischen wie methodischen Zugängen" zusammenführt. Ganz im Gegensatz dazu verweise der Begriff "Kulturwissenschaft" auf eine weitere eigenständige Disziplin in Konkurrenz zu den bereits bestehenden, was typisch für den deutschen Wissenschaftsbetrieb ist. Dennoch gibt es innerhalb der deutschen Kulturwissenschaften Tendenezen, die darauf zielen, durch disziplinenübergreifende Forschung eine reflexive Metaebene für die Geisteswissenschaften zu schaffen. Die theoretischen und methodischen Differenzen zwischen ihnen und den cultural studies bleiben trotzdem augenfällig. Zudem weisen letztere nicht nur, wie einige Kulturwissenschaftler das auch tun, die normative Aufteilung in Hoch- und Massenkultur zurück, sondern begrenzen ihr Forschungsgebiet im wesentlichen auf die von anderen Forschern als defizitär diskreditierte Alltags- und Populärkultur, also auf Themen wie Trivialliteratur, Comics und Popmusik. Den Herausgebern gelingt es, das komplexe Verhältnis von culural studies und Kulturwissenschaften, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die Schärfen und Unschärfen ihrer Methoden und Forschungsgebiete so deutlich gemacht, wie es der allzu knapp bemessene Raum einer Einleitung gestattet. Nur eines lassen sie vermissen: Einen deutlichen Hinweis auf den gesellschaftskritischen Impetus der cultural studies, die nicht nur aus reinem Erkenntnisinteresse betrieben werden, sondern mit dem dezidierten Ziel gesellschaftskritischer Intervention.

Eine der hervorstechenden theoretischen Arbeiten des Bandes verfaßte Richard Johnson. Wenn auch nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, so zieht sich doch die Anlehnung an Marx wie ein roter Faden durch seinen 1983 erstmals erschienenen Beitrag "Was sind eigentlich Cultural Studies?". Er beschreibt sie als ein Projekt, dessen Definition notwendigerweise Schwierigkeiten mit sich bringt. Stets werde es aufs Neue begonnen und sei am ehesten als Kritik zu begreifen, die sich an sozialen Ungleichheiten entzündet. Daß es dabei nicht zuletzt um Minoritäten und marginalisierte Teile der Gesellschaft geht, wird jedoch nicht recht deutlich. Johnson empfiehlt, sich verstärkt dem marxistischen Sprachphilosophen Voloshino zuzuwenden, allerdings ohne seine Theorien vorzustellen oder gar ihre besonderen Vorzüge zu nennen. Man erfährt nur soviel, daß er sie mit einer poststrukturalistischen Theorie der Subjektivität verbinden möchte. Das Ergebnis bestehe in der Rückbesinnung auf "einige ältere, aber neuformulierte Fragen über Kampf, 'Einheit' und die Ausbildung eines politischen Willens". Hierzu seien nach wie vor die beiden wichtigsten Fragenkomplexe der cultural studies zu bearbeiten: zum einen die "Popularität und der Gebrauchswert kultureller Formen", zum anderen deren Folgen. Sind sie repressiv oder verweisen sie auf "alternative Gesellschaftsformen"? Gerade in seinem Beitrag wird deutlich, daß es sich bei cultural studies nicht um ein bloßes Wissenschaftsprojekt handelt, sondern um Gesellschaftskritik, die berechtigterweise auf Veränderung zielt. Wieso er hierzu allerdings ausgerechnet die damals bereits in Agonie liegende marxistische Theorie revitalisieren möchte, läßt sich nicht so recht nachvollziehen.

Die aktuelle theoretische Diskussion innerhalb der cultural studies findet in dem Sammelband leider keinen Platz. In seinem aus dem Jahre 1995 stammenden kommunikationswissenschaftlichen Text, dem jüngsten des Bandes, weist Douglas Kellner zwar darauf hin, daß im Zentrum der cultural studies "Studien über Rasse, Geschlecht und Klasse" stehen. Bedauerlicherweise findet das in dem Buch so gut wie keinen Niederschlag.

Von ihm unterscheidet sich in Jan Engelmanns Reader "Die kleinen Unterschiede" in vieler Hinsicht. Zunächst einmal sticht die kritische Haltung der Herausgeber gegenüber den cultural studies ins Auge. Zudem legt der Band mehr Gewicht auf ihre Aufnahme in Deutschland. Wie Engelmann betont, versteht sich der Reader nicht nur als Einführung, sondern auch als Einmischung, die "angesichts der medialen Kooptierbarkeit von Querdenkertum und Abweichung" sowie dem "Hype" um cultural studies notwendig sei. Dabei erklärt er das in Deutschland "explosionsartig" wachsende Interesse an kulturwissenschaftlichen Fragestellungen erfrischend kritisch nicht zuletzt aus der "teilweise selbstverschuldeten Krise der Geisteswissenschaften, welche im Kampf um begrenzte Fördermittel nun nach rettenden Strohhalmen" griffen. "Difference sells", heißt es so lapidar wie treffend. Doch nicht nur dem forschungsleitenden Interesse in Deutschland gilt Engelmanns Skepsis, auch den Zustand der britischen und anglo-amerikanischen cultural studies untersucht er kritisch. Nichts sei mehr übrig von dem einst "klar umrissenen wissenschaftlichen Projekt", das um seine "Nischenexistenz" ringen mußte, klagt er mit nostalgischem Timbre und historisch nicht ganz zutreffend. Denn gar so klar umrissen war das Projekt nie. Inzwischen sei es, so Engelmann weiter, zu "Kultstudien" verkommen, deren Betreiber dem "Konformismus der Abweichung" huldigten. Mal geißelt er das "geheimnisvolle Raunen von einer 'Postdiziplinarität'", mal gönnt er sich via Zitat einen Seitenhieb auf das "bürokratische Mantra von Rasse, Klasse, Gender" (Kobena Mercer). Sein Ziel ist ausdrücklich, über die versammelten Beiträge die "gegenwärtige Krise" der cultural studies zum Ausdruck zu bringen und so dazu beizutragen, der "Import-Euphorie" zu begegnen.

Dominik Bloedner gelingt es in einem einführenden Text darzulegen, wie sich die englischen cultural studies in der Diskussion um den Begriff class herauszubilden begannen. Ein Terminus, der seine Dignität als alleinige zentrale Analysekategorie verloren hat, seitdem ihm gender und race zur Seite traten. Für die cultural studies habe dieser "Privilegienentzug" der einst alleinherrschenden paradigmatischen Analysekategorie ein "Aufbruch zu neuen Ufern" bedeutet, konstatiert er zu Recht, doch problematisiert er nicht, was es für den marxistisch inspirierten Terminus class notwendigerweise heißen mußte, vom Thron der zentralen Analysekategorie gestoßen worden zu sein. Hiervon können Inhalt und Umfang keines Begriffes unberührt bleiben. Bloedners dringlichste Frage lautet hingegen: "Wie müßte eine zeitgemäße kontextuelle Politik der Differenz aussehen, die die Pluralität der Lebensformen und Subjektivitäten als Ausgangslage nimmt und auf Garantien verzichtet, ohne aber dabei ineffektiv zu sein?" Um sie beantworten zu können, gelte es, die Gemeinsamkeiten zwischen den cultural studies und der Postmoderne im Auge zu behalten. Beide seien fundamental antiessentialistische Unternehmen, beide forcierten bedeutungstheoretische Verschiebungen, übten Subjektkritik und hegten Pluralisierungsabsichten. Der Antiessentialismus der cultural studies sei jedoch weniger epistemologisch aufzufassen als der der Postmoderne, sondern primär "kontextuell und politisch". Das könnte als berechtigte Kritik an der mangelnden erkenntnistheoretischen Grundlegung der cultural studies aufgefaßt werden, ist von Bloedner jedoch durchaus nicht so gemeint.

Die Bedeutung, die den analytischen Differenz-Kategorien race und gender seit Beginn der achtziger zugewachsen ist, machen die Beiträge von Stuart Hall und Angela McRobbie deutlich. Hall, der sich in den in den letzten Jahren zunehmend der Untersuchung von Ethnizität zuwandte, nennt zunächst vier "große soziale Kollektivitäten", die unsere Identität festigen: Klasse, Rasse, Gender und Nation. Sie alle seien, so klagt er, von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit gründlich aufgeweicht worden. Ob das wirklich so beklagenswert ist, sei dahingestellt. Und selbst wenn man dem Autor konzedieren sollte, daß Identität dem Menschen notwendig ist, bliebe immer noch fraglich, ob sie sich ausgerechnet an diesen Kollektivitäten festmachen muß, an Nation zumal. Eine der "Kollektivitäten" genießt Halls besondere Wertschätzung: Entlang der eigenen Biographie entwirft er die Notwendigkeit der Entwicklung einer neuen identitätsstiftenden Ethnizität, die er der alten, essentialistischen entgegenstellt. Doch bleibt sein Begriff der "neuen Ethnizität" seltsam vage. Daß sie weder ganz in der (kolonialen) Vergangenheit gefangen bleibe, noch diese vergessen habe, trägt da wenig zur Klärung bei. Ebenso wenig wie die Feststellung, daß die neuen Ethnizitäten "weder gänzlich gleich, noch völlig verschieden" seien.

Andere Prioritäten setzt Angela McRobbie. In ihrem Beitrag "Bridging the Gap" unterscheidet sie zwischen "materialistischen Feministinnen" und "Kulturfeministinnen" - und kritisiert beide. Neigten die aus den Literaturwissenschaften oder den cultural studies kommenden Kulturfeministinnen dazu, den "materiellen Kontext der Konsumproduktion gänzlich zu ignorieren oder als bezeichnend für einen [...] ökonomischen Ansatz abzutun", der krude und reduktionistisch sei, so liege die Schwäche der materialistischen Feministinnen, also vorwiegend Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Soziologinnen, darin, daß sie kulturelle Fragen nicht interessierten. Der Autorin geht es darum, "die Erforschung von Produktion und Konsumption wieder zusammenzuführen". Als frühere Marxistin hat sie sich das Verständnis für den Unterschied zwischen der ehemals scharfen Analysekategorie Klasse gegenüber der neutral klingenden Rede von Gesellschaftsschichten bewahrt. Leise schwingt bei ihr immer wieder die unausgesprochene Kritik mit, daß der Klassenbegriff zur bloßen Beschreibung schichtenspezifischer Unterschiede verschwommen sei. Man wird dieser Kritik die Zustimmung kaum verweigern können, sondern sich im Gegenteil wünschen, sie wäre laut und deutlich ausgesprochen worden. Nicht teilen jedoch wird man ihr Plädoyer für class als primäre Analysekategorie.

Gewährt die Sammlung von Bromley einen guten Einblick in die Entwicklung der cultural studies, so überzeugt "Die kleinen Unterschiede" mit Beiträgen zur gegenwärtigen Diskussion und vor allem mit einer fundierten kritischen Haltung, auch wenn manche der angesprochenen Probleme schon länger bekannt sind und die AutorInnen nicht immer Lösungen parat haben. Daß etwa gender, class und race aufeinander bezogen werden müssen, war auch schon vor der Publikation der Beiträge Bloedners, Halls und McRobbies bekannt. Die Frage jedoch, wie das bei solch unterschiedlichen Kategorien geschehen soll und kann, vermag keiner der drei überzeugend zu beantworten. Im Gegenteil werfen sie, abgesehen von McRobbie, diese Frage nicht einmal auf. Sie betont immerhin explizit, daß die Termini "Klasse, Gender und ethnische Zugehörigkeit [...] kontinuierlich auf ihre Bedeutung hin befragt und 'zusammengedacht' werden" müßten. Solange das nicht wirklich in Angriff genommen wird, bleibt es beim von Engelmann beklagten bloßen Mantra. Ebenso, wenn die von Göttlich und Winter geforderte Kontextualisierung ausbleibt und das aus den USA stammende Triumvirat in Deutschland unverändert übernommen wird. So hat zumindest die Analysekategorie race hierzulande einen anderen Stellenwert als etwa in den USA. Roger Bromley aber schüttet gelinde gesagt das Kind mit dem Bade aus, wenn er die analytischen Kategorien class, gender und race fallen lassen will, da sie wenig geeignet seien, die "Prozeßhaftigkeit kulturellen Wandels in all seinen Facetten zu erfassen".

Titelbild

Roger Bromley: Cultural Studies.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999.
388 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3924245657
ISBN-13: 9783924245658

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede: Der Cultural-Studies-Reader.
Campus Verlag, Frankfurt 1999.
ca. 240, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3593362457

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