Der Zauberer im Hörsaal
Thomas Manns "Collegheft 1894-1895"
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn einem Brief an die amerikanische Freundin Agnes E. Meyer vom Dezember 1947 hält Thomas Mann seinen vor wenigen Monaten abgeschlossenen Roman "Doktor Faustus" für "das Beste, was ich zu geben habe und das Beste wohl, was ich je zu geben hatte; denn es ist die Synthesis meiner Fähigkeiten, meines Könnens und Wissens, das direkteste, persönlichste und leidenschaftlichste meiner Bücher, das mir stärker zugesetzt hat, tiefer an mir gezehrt hat, als jedes frühere." So verwundert es auch nicht, dass die auf vier Kapitel verteilten Hallenser Studienimpressionen Adrian Leverkühns und Serenus Zeitbloms immer wieder auch auf Reflexionen der kurzen Studienzeit Thomas Manns in München hin untersucht wurden. Eine interessante Brücke in diese Zeit mag das zweistündige Kolleg des dämonischen Dozenten Schleppfuß über "Religionspsychologie" liefern, das - nach Zeitbloms Bericht - "exklusiver Natur [war], auch keineswegs examenswichtig, und nur eine Handvoll intellektuell und mehr oder weniger revolutionär gerichteter Studenten, zehn oder zwölf, nahmen daran teil". Schleppfuß' intellektuelle Art, seine "dämonische Welt- und Gottesauffassung psychologisch" zu illuminieren und dadurch "dem modernen, wissenschaftlichen Sinn annehmbar, ja schmackhaft" zu machen, wird von seiner spezifischen Vortragsweise unterstützt, "die ganz dazu angetan war, gerade jungen Leuten zu imponieren. Er sprach völlig frei, distinkt, mühe- und pausenlos, druckfertig gesetzt, in leicht ironisch gefärbten Wendungen, - nicht vom Kathederstuhl aus, sondern irgendwo seitlich halb sitzend an ein Geländer gelehnt, die Spitzen der Finger bei gespreizten Daumen im Schoße verschränkt, wobei sein geteiltes Bärtchen sich auf und ab bewegte und zwischen ihm und dem spitz gedrehten Schnurrbärtchen seine splittrig-scharfen Zähne sichtbar wurden." Zeitblom gibt schließlich seiner Verwunderung Ausdruck, wie "gewissenhaft" die Studenten die "greulichen Unflätereien, [...] das Verruchte für ein notwendiges und mitgeborenes Korrelat des Heiligen und dieses für eine ständige satanische Versuchung, eine fast unwiderstehliche Herausforderung zur Schändung [zu erklären]", "in ihre Wachstuchhefte einzeichneten". An späterer Stelle heißt es noch einmal: "Wir schrieben das in unsere Wachstuchhefte, damit wir es mehr oder weniger getrost nach Hause trügen."
Im Wintersemester 1894/95 und im Sommersemester 1895 besuchte Thomas Mann an der Technischen Hochschule in München als unregelmäßiger Gasthörer verschiedene Vorlesungen über Nationalökonomie, Mythologie, Ästhetik, Geschichte und Literaturgeschichte. Ihm selbst ging es, wie er am 27. September 1894 seinem Lübecker Freund Otto Grautoff in einem Brief erklärte, vor allem darum "zu lernen", denn "wir haben ja eigentlich alle beide noch garnichts gelernt, und zu der intellectuellsten der Künste, der Wortkunst, gehört nicht nur Gefühl und Technik, sondern auch Wissen." Da Mann bekanntlich ohne Abitur war, musste er nachweisen, "daß er mindestens 17 Jahre alt ist, sich sittlich gut betragen hat und die nötigen Vorkenntnisse für das spezielle Fach, in welchem die Ausbildung angestrebt wird, besitzt." Zusätzlich hatte er zehn Mark Einschreibgebühr, drei Mark Krankenhausgebühren und für Vorlesungen pro Semester und Wochenstunde zwei Mark fünfzig zu entrichten. Textuelle Frucht dieser Zeit ist ein an die Schilderung der Hallenser Studienzeit Leverkühns im "Doktor Faustus" erinnerndes "Collegheft", ein schwarzes Wachstuchheft, Rotschnitt mit weißem linierten Papier, auf dessen Titelblatt neben der Angabe des Semesters die feierliche Verfasserangabe steht: "Thomas Mann. - Rambergstraße 2or." Dieses Kollegheft haben jetzt Yvonne Schmidlin und Thomas Sprecher in einer vorbildlichen und interessante Einblicke gewährenden Edition veröffentlicht. Als Faksimiles beigegeben sind Zeichnungen, mit deren Hilfe sich Thomas Mann zwischen dem Text der Eintragungen immer wieder den Unterschied zwischen Grab- und Denkmälern einzuprägen versuchte.
Für das Wintersemester wählte Thomas Mann "in buntem und unersprießlichem Durcheinander historische, volkswirtschaftliche und schönwissenschaftliche Vorlesungen" über 'Nationalökonomie', 'Allgemeine Kunstgeschichte', die 'Grundzüge der Ästhetik', die 'Deutsche Literaturgeschichte' und 'Shakespeare's Tragödien'. Auffällig ist vor allem die Vorliebe für Veranstaltungen, die nachmittags beginnen. Er habe - lässt er Grautoff wissen - "immer bis 12 Uhr mittags, manchmal bis 3 Uhr nachmittags" geschlafen. Und weiter wünscht er ihm, "daß Du auch bald so frei und glücklich wirst, wie ich es gottseidank geworden bin". "Als Student lebend, ohne es rite zu sein", so pflegte er seine ungebundene Lebensweise zu beschreiben und genoss München und insbesondere das berühmte Café Central, in dem die Schwabinger Künstlerkolonie ihren Treffpunkt hatte, in vollen Zügen. Zum letzten Mal macht sich der Gaststudent Thomas Mann, wie Thomas Sprecher in der Einleitung zutreffend bemerkt, Gedanken und Notizen nur aus Spaß, frei vom später unerbittlichen Zwang zum "Werk". Keineswegs genügt Thomas Mann dem im "Faustus" skizzierten Ideal: er schreibt nur wenig mit, redet aber in seiner Mit-Schrift permanent dazwischen, verteilt Noten für die Professoren, macht Verbesserungsvorschläge ("ich finde besser..."), gibt seiner Verwunderung, nicht selten mit Anflug von juvenilem Hochmut, scharfzüngigen Ausdruck ("falsch", "Humbug") oder lobt großzügig.
Diese zum Teil aufschlussreichen Kommentare erreichen ihren Höhepunkt in einem Dauergefecht mit Manns 'Lieblingshassobjekt', das er ein Semester akribisch verfolgt: der philosophischen Ästhetik. Mit sichtlichem Vergnügen fällt er dem verknöcherten Spätidealismus des Franz von Reber, dessen Züge er später in die Gestalt des Dr. Helmut Institoris im "Doktor Faustus" 'einmontiert', immer wieder mit "eignen Bemerkungen" ins Wort. Im Einzelnen reagiert Thomas Mann, wie Thomas Sprecher zu Recht unterstreicht, auf Rebers Ausführungen mit Argumenten der von Hermann Bahr neu definierten Moderne und der in den Münchener Künstlerkreisen diskutierten Décadence. "Die Professoren", so heißt es an einer Stelle im Kollegheft, "beachten vor allem niemals den Unterschied zwischen klassischer Ästhetik und Décadence-Ästhetik und sie bedenken nicht, daß unserer Zeit die klassische Ästhetik, die sie lehren, völlig fremd sein muß." Noch apodiktischer lautet Manns Credo, in der Kunst könne das 'Schöne' "als absoluter Begriff überhaupt nicht in Frage kommen". Diese Ästhetik, zürnt er weiter, "vergißt das Individuelle"; nicht um Ideen könne es gehen, sondern um "das Einzelne". Folglich "kann die Aesthetik, in der die Psychologie des Einzelnen eine so große Rolle spielt, nicht in Dogmen & Regeln verknöchert werden". Daraus folgt für Thomas Mann, was er im Kollegheft mit der triumphierenden Unterschrift "T. M." besiegelt, dass "die Ästhetik als Wissenschaft [...] eine primitive Volks- und Massenpsychologie" sei, ein System von Banalitäten, kurz "das Banale ins System gebracht!" Gleichzeitig lassen sich in diesen Ausführungen mühelos Anfänge komplexer Diskurse (das 'Schöne', das 'Böse', das 'Hässliche', das 'Erhabene', der Vergleich der Künste) entdecken, die Thomas Mann fortan in seinen Erzählungen und Romanen, vom "Tod in Venedig", über die "Joseph"-Tetralogie bis zum "Doktor Faustus" beschäftigen werden. Der Neunzehnjährige formuliert in diesem Kollegheft zum Teil brillante, in jedem Fall aber messerscharfe Analysen, die etwas vom späteren Selbstbewusstsein des 'Poieten' erahnen lassen. Daran sei, wie Thomas Mann ironisch über die Vorlesungen von Rebers anmerkt, "wohl in der Hauptsache meine lächelnde Souveränität als Künstler schuld, die mit freundlicher Herablassung aber dennoch achselzuckend zuhört, wenn ein alter Herr unter fortwährenden Blamagen sich müht, die Kunst in das häßliche Foltersystem einer Eisernen Jungfrau zu zwängen". Später, in einem Brief an Franz Brümmer, hat er noch einmal treffend von dem "Hochmuth und Oppositionsgeist des werdenden Litteraten" gesprochen.
Mit dem Ende des ersten Semesters ist die kurze Studentenzeit für Thomas Mann im Grunde genommen schon vorbei. Im folgenden Sommersemester besuchte er lediglich noch drei Vorlesungen: die Fortsetzungen der Kollegien über 'Allgemeine Kunstgeschichte' bei Franz von Reber und über 'Deutsche Literaturgeschichte' bei Wilhelm von Hertz; neu hinzugekommen ist lediglich die Vorlesung über 'Deutsche Geschichte 1740-1871'. Insgesamt besuchte er die Veranstaltungen nur noch sehr sporadisch und grundsätzlich uninteressiert. Umfassen die Mitschriften des Wintersemesters 106 Seiten, so sind es für das Sommersemester keine 20.
Thomas Mann führte nur ein Kollegheft, dessen Aufzeichnungen nicht thematisch, sondern chronologisch angeordnet sind. Nicht zuletzt deshalb lassen sich diese Textfragmente nicht als ein "Werk" betrachten, da, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen kein Gestaltungswille zu erkennen ist. Gleichzeitig ist es weder als Tage- oder Notizbuch zu klassifizieren, bietet es doch keine intimen Bekenntnisse, noch als eine Sammlung ästhetischer Materialien oder verstreuter Aufzeichnungen, die auf ihre literarische Gestaltung warten. Daher ist Thomas Sprecher in jedem Fall zuzustimmen, wenn er das Kollegheft als Gattung sui generis auffasst, da sich Thomas Mann hier vielleicht zum letzten Mal überhaupt etwas um seinetwillen, ohne Absicht und Hintersinn notierte. Es ist zudem mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass er dieses Kollegheft als direkte Quelle für spätere Arbeiten benutzte. Bedenkt man Thomas Manns mitunter stupendes Gedächtnis, so ist klar, dass er dieser Stütze ehemals schriftlich fixierter Marginalien eigentlich auch nicht bedurfte. Die Konzeption und Entstehung des "Doktor Faustus" etwa führt exemplarisch vor Augen, wie mühelos Mann die Reminiszenzen an seine Münchener Zeit zu reaktivieren und literarisch zu verwerten in der Lage war. Wiederentdeckt hat Thomas Mann sein Kollegheft erst Ende 1950 beim Sortieren alter Akten. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass es recht schnell vergessen, später ohne besondere Achtsamkeit aufbewahrt wurde und wohl eher zufällig überlebt hat. Durchaus nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Thomas Mann bereits am 12. Juli 1895 nach Rom aufbrach, dort zwar sein berufs- und erwerbsloses Leben fortsetzte, "das ganz provisorische und experimentelle Dasein", aber bald begann, seine biographische Herkunft in literarisches Material zu verwandeln und so die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der "Buddenbrooks" schuf, mit deren Erscheinen der Weg zurück in die Bürgerlichkeit gepflastert wurde.
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