lebt wohl, ihr lebenden

Die österreichische Zeitschrift "Wespennest" dokumentiert Ernst Jandls letzten Lebensabschnitt

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon vor einigen Jahren - anlässlich des 70. Geburtstages von Ernst Jandl - veröffentlichte das "Wespennest" ein fotografisches Tryptichon des Dichters, dessen mittlere Tafel Jandl bereits zu Lebzeiten als Toten zeigte, ohne Brille und mit geschlossenen Augen. Die Totenmaske, so soll Jandl zur Fotografin Isolde Ohlbaum gesagt haben, sei das ideale Portrait, "das letzte Gesicht, das nichts mehr will". Die Gewissheit des Sterbenmüssens, so Bernhard Kraller im Editorial des Sonderheftes, habe Jandl im Alter schamloser und ungehemmter, aber auch wahrhaftiger gemacht. Die Zeitschrift nimmt diese Blickrichtung auf und beleuchtet Jandls Lebensabend in Essays, Gesprächen und Fotografien.

Denn auch Jandl selbst hat sich in den "Letzten Gedichten" im Vorhinein portraitiert: "auf deinem einstigen bauch / liegt deine einstige hand / in deinem zukünftigen sarg." Das Lebewohl der "letzten worte" wird formuliert - "das heißt, wenn jemand bei mir ist / werde ich das vielleicht sagen" -, das vermutlich allerletzte Gedicht jedoch ist ein bärbeißiger Abgesang auf den "schöpfer des himmels und aller verderbnis" und auf "seine[n] in scheiße hineingeborenen sohn". Jandls Angewidertsein von der Schöpfung aber macht auch vor den eigenen Schöpfungen nicht Halt: in seinem Regal stehen "LEITZ-ordner gefüllt mit blättern DIN A4 / jedes datiert, am jedem festgetrocknet / je ein ejakulat, seit pubertät / [...] / ein spermawerk äußerster konsequenz". Die Sprache eröffnet die Möglichkeit der Rettung, auch wenn sie nur sagt, dass keine Rettung möglich ist.

Der schneidende Witz der Verzweiflung, er spiegelt sich auch in den Fotografien von Kraller und Reinhard Öhner wider, beispielsweise in denen aus der Zentagasse, wo Jandl zuletzt unter der Wohnung von Friederike Mayröcker lebte. In einer quasi-filmischen Folge zeigen die Aufnahmen das Paar Mayröcker-Jandl 1994 zusammen auf Jandls Bettsofa im Schlaf- und Arbeitszimmer, danach Mayröcker alleine an derselben Stelle im November 2000 (also nach Jandls Tod), schließlich die gänzlich verwaiste Bettstatt im Januar 2001. Darüber aber, gewissermaßen ein Symbol für das Überdauern der Schrift, ein Plakat mit der Aufschrift "Jandl". Der Rest ist Verwaltung und philologische Spurensicherung: schon bald nach dem Tod bevölkern die Umzugskartons des österreichischen Literaturarchivs die Wohnung.

Auch sonst ist das "Wespennest" ungemein inhaltsreich. Inneneinsichten in den künstlerischen Schaffensprozess gestattet etwa ein ausführlicher Bericht von Jandls Lektors Klaus Siblewski, über das Zusammenleben mit dem bereits schwer herzkranken und manisch-depressiven Jandl und die nach dem Tod des Dichters einsetzenden und bis heute andauernden anonymen Anrufe berichtet die Mayröcker in dem berückenden Interview "In diesem letzten Frühjahr". An dessen Schluss stehen die Worte: "Er (Jandl) war, er ist ALLES für mich." Es gehört zur chronologischen Vollständigkeit, ja Besessenheit des Heftes, dass das letzte Drittel die Bilder vom Wiener Zentralfriedhof präsentiert; sie reichen vom Friedhofseingang über die Einsegnung und die Grablegung. Das letzte Bild mahnt gar an die krude Materialität alles Körperlichen und lichtet noch den Bagger ab, der zuschaufelt.

Der vom "Wespennest" begangene, fast schon rituelle Nachvollzug dieser letzen Jahre lässt erahnen, welche Bedeutung Jandl für das literarische Leben Österreichs spielt. Trotzdem wird hier beileibe niemand unter die Erde gebracht, wird kein Schlussstrich unter ein Dichterleben gezogen oder ein Denkmal errichtet. Man sehe es dialektisch: Jandl lebt zwischen den Seiten als literarischer Poltergeist weiter, gerade weil er den illusionslosen Blick auf das bevorstehende Ende beizeiten eingeübt hat. Es sähe ihm ähnlich, wenn er in die eigene Trauerprozession mit den Worten hineinfahren würde: "o ihr gottverfluchten alten / löset eure kummerfalten".

Kein Bild

Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Bilder und Texte Nr. 125.
Herausgegeben von Walter Famler.
Wespennest zeitschrift und edition, Wien 2002.
104 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3854581254

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