Begabte Dichter und Denker

Die Bildungssoziologischen Schriften Pierre Bourdieus

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich das bestimmt nicht konservative "Kursbuch" im März des Jahres 2000 wortreich um die "neuen Eliten" kümmerte, steuerte auch der Soziologe Heinz Bude einen Text bei. Er sprach davon, dass man "durch Talent, Engagement und Initiative" in solcherlei gesellschaftliche Höhen aufgenommen würde. Von irgendwie demokratischen Zugang war die klingelnde Rede - westerwellisch gesprochen, haben die, die viel leisten, viel Recht auf Zugehörigkeit zur Elite.

So konnte kaum deutlicher der Unterschied im grundsätzlichen Verständnis von Gesellschaft, Herrschaft und ganz besonders der Idee der Soziologie zu den Schriften Pierre Bourdieus heraustreten. Hier trennen sich Wissenschaftswelten und offenbart sich Zeitgeistiges. Auf der einen Seite nett anzusehende, gefällig schreibende und letztlich unbegründete Sozialdeskription; dem gegenübergesetzt eine Soziologie, die sich selbst mit einem kritischen und widerständischen Aufbegehren versieht. Bourdieu hatte sich zeitlebens gegen solch ein Eliteverständnis durch die Untersuchung von Unterdrückungs- und Herrschaftsmechanismen gewehrt, hatte die Vielschichtigkeit der Abhängigkeit und zuletzt die versteckte und durchaus budesche Welt der autoritären Führungszirkel angegriffen. Wessen Eltern den Eliten angehören, hat die meisten Chancen ihr wieder anzugehören.

Pierre Bourdieu, der am 24. Januar verstarb, hatte sich noch in seiner letzten Rede auch um eine "engagierte Wissenschaft" bemüht. Eine Wissenschaft mit kritischem Sinn und mit dem Interesse der Veränderung statt der bloßen Legitimation. Von zentraler Aufmerksamkeit war für Bourdieu dabei auch der Komplex der Bildung - als institutionalisierte Ordnungsfunktion der Gesellschaft und untrennbar davon als soziales Feld. Noch zum Ende des letzten Jahres waren seine bildungstheoretische Schriften und Interviews erschienen und hatten damit ungewollt der PISA-Debatte eine entscheidende Dimension (zurück-)gegeben. War bei der ideologieunverdächtigen Erhebung herausgekommen, dass sich der bildungsbürgerliche Anspruch Deutschlands als "Dichter und Denker"-Nation aufgrund veralteter Bildungsformen und -systeme nicht mehr mit der Realität deckt, so kann man bei Bourdieu Grundsätzlicheres lesen. Die Aufsätze und Interviews umfassen die Spanne eines Forscherlebens, von 1966 bis 2000 reichen die Veröffentlichungsdaten und zeichnen sich gerade vor den derzeitigen Debatten durch ihre Aktualität aus.

Der Tenor der Arbeit erschließt sich durch einen zeitlich gemeinten Rückschritt wissenschaftlicher Erkenntnisse - Bourdieu bewegt sich in einem Diskurs, in dem Intelligenz und bildungstechnische Leistungsvoraussetzung noch als gesellschaftliche Konstruktion verstanden wird. In Deutschland hingegen schillert noch heute das Gerede der "Begabung" als grundlegende Disposition für Bildungsreformen durch alle politischen Lager. Genau dies wird von Bourdieu kraftvoll als Ideologie gekennzeichnet. Bourdieu stellt fest, dass ein Verständnis von Begabung als gewissermaßen naturgegebene Grundlage zur bildungstechnischen Ausrichtung des Schul- und Gesellschaftssystems eine herrschende Klasse und ihren Herrschaftsanspruch selbst reproduziert. So "bietet sich nicht nur der Elite die Möglichkeit, sich in ihrem Dasein gerechtfertigt zu sehen, sie trägt auch dazu bei, den Angehörigen der benachteiligten Klassen das Schicksal, das ihnen die Gesellschaft beschieden hat, als unentrinnbar erscheinen zu lassen." Das aus preußischer Zeit stammende dreigliederige Schulsystem wies einst die Aristokraten, die Bürger und die breite Volksmasse in ihre gesellschaftlich getrennten Funktionen ein. Heute bilden Kinder aus Familien, in denen ein Elternteil eine Hochschulreife aufweisen kann, mehr als die Hälfte der Studierenden. Von den Kindern, deren Eltern zur Hauptschule gingen, studieren nur 20 Prozent.

Es sind also institutionelle Rahmenbedingungen wie die Schule, die in Deutschland auf das klassen-, bzw. milieuspezifisch angeeignete kulturelle Kapital durch ihre starre Differenzierung zurückgreift, die die gesellschaftliche Konstruktion vorwegnehmen. Mit Bourdieu kann gesagt werden, dass sie "der Perpetuierung der kulturellen Privilegien" dienen und sich in ihrer Erstarrung auf das formale Gleichheitspostulat als rückständig entkleiden. Dagegen wird von der Bundesbildungsministerin über die Böllstiftung bis zur "taz" oftmals einen versteckten Begabungsbegriff gesetzt: Irgendwie zustande gekommene 'Unterschiedlichkeit' müsse berücksichtigt werden.

In einem der Haupttexte ("die konservative Schule") erläutert Bourdieu, wie das Bildungssystem von Grund auf diejenigen, die aus ihrem sozialem Hintergrund nicht zu den kulturell Privilegierten gehören, in mehrfacher Weise benachteiligt werden. Es stand in den siebziger und achtziger Jahren zumindest im Zentrum wissenschaftlichen Interesses herauszufinden, inwiefern Benachteiligungen bei den familiengebundenen Übertragungsweisen von ,zweckfreier Bildung' wie Sprache, kulturellem Bewusstsein und Ethos durch Veränderungen im sozialen Umfeld kompensiert werden können. Wenn heute in der Nachfolge einer Neoliberalisierung gesellschaftlichen Verständnisses und der gleichzeitigen Annahme von vorgegebenen Begabungsunterschieden das unmittelbare Leistungskriterium gegenüber den aufgestellten (und auf hohes kulturelles Kapital bezogenen) Wissens-Standards blind für Sozialisationsprozesse geworden ist, erreicht die Bildungssystematik eine einfache Wirkungsweise: Scheinbar neutral geht die Schule von nicht deklarierten bildungsbürgerlichen Werten aus und funktioniert als Segregationsmechanik für die Einteilung in gesellschaftliche Schichtungen. Indem Migrantenkinder sich an den gleichen Wissensstandards messen lassen müssen, werden ihnen Zugänge verwehrt und wird gleichzeitig simpel konstatiert, dass eben Begabungsunterschiede vorhanden seien.

Vor etlichen Jahren hatte Michel Foucault diese Sozialdisziplinierung und hierarchische Einordnungsfunktion mit einer wissensbezogenen Dimension verknüpft. So geht er auf die Produktion von Wissen ein, indem er feststellt, dass sich im zentralen Moment der schulischen oder universitären Prüfung ein Mechanismus etabliert habe, "der eine bestimmte Form der Machtausübung mit einem bestimmten Typ der Wissensformierung kombiniert."
Alleine der auch von Edelgard Bulmahn gerne verwendete Begriff der "Chancengerechtigkeit" zeigt in seiner Distanz zu einer Postulierung vom Anspruch auf 'Gleichheit' eine Abkehr von tiefergehenden bildungspolitischen Ideen. Der Leistungsbegriff, der mitschwingt, wenn von eben dieser formalen Gerechtigkeit gesprochen wird, verrät die Blindheit gegenüber einer milieuspezifisch hereditären Weitergabe von kulturellen Privilegien. Ungerechte gesellschaftliche Verteilung von kulturellem Kapital wird nicht durch normiert-egalitäre Leistungsabfrage ausgeglichen.

Dem erheblichen Druckschmerz, der durch Bourdieus wissenschaftlichen Finger in der politischen Wundstelle verursacht wird, kann nur entgehen, wer sich weiterhin diese Blindheit verordnet und über alle systemische Bedingungen "nichts neu, aber vieles besser" machen will. Dann muss Bourdieu politisch folgenlos bleiben.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Klassen und Erziehung.
Herausgeben von M. Steinrücke.
Übersetzt aus dem Französischen von Franz Hector und Jürgen Bolder.
VSA Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung, Hamburg 2001.
206 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3879758034

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