Und was verstecke ich?

Wer nicht fragt, sagt sich Judith Kuckart in ihrem neuen Roman "Lenas Liebe", bleibt dumm

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So einen Fußballplatz gibt es überall auf dem Land: Ein paar verlorene Zuschauer stehen am Rand des Spielfelds, und sie freuen sich, wenn das erste Tor für ihre Mannschaft fällt. "Oswiecim, zwyciestwo, zwyciestwo" rufen ein paar Mädchen ihren Freunden auf dem Platz zu. "Oswiecim, zwyciestwo, zwyciestwo" - was das heißt, fragt Lena. "Auschwitz, Sieg, Sieg", sagt der Priester. Und schon sind wir mittendrin in der Geschichte, der deutschen und der von Lena.

Dass Judith Kuckart es sich mit ihren Büchern einfach macht, kann man nicht gerade behaupten. Es sind die großen Themen, an denen sich ihre Protagonisten abmühen: Liebe (und deren Unmöglichkeit), Sexualität, Nationalsozialismus, das Verhältnis von Erinnerung und Gegenwart schlechthin. Kuckarts neuer, ihr vierter Roman "Lenas Liebe" besticht erneut durch die erzählerische Kraft der Autorin. Ihr Schreiben hat etwas Sezierendes, präzise zeichnet sie die Irritationen und Windungen im emotionalen Haushalt ihrer Figuren auf. Aber der Roman krankt auch an einer fast schon mutigen Überladenheit. Man spürt das drückende Gewicht der Geschichten förmlich auf den schmalen Schultern der Protagonisten. Und zugleich ist die Konstruktion des Romans von einer nicht nur buchstäblich papierenen Statik - man befürchtet, sie könnte durch zu heftiges Atmen beim Lesen in sich zusammenstürzen. Aber gerade diese Zerbrechlichkeit fasziniert.

"Lenas Liebe" ist zunächst einmal ein Roadnovel, eine Art Wallfahrt Richtung Läuterung, die den Leser über die Autobahn und durch diverse Zeitschichten führt. Drei ziemlich unterschiedliche Gestalten sitzen zusammen in einem Volvo, holpern von Polen nach Berlin und tragen jeweils eine mehr oder minder verkorkste Biografie mit sich herum. Freilich überschneiden sich die Lebenswege von Lena, Julius Dahlmann und dem Priester Richard Franzen nicht erst auf der Autobahn. Warum sie zusammen auf Tour sind, erfahren wir im Lauf der Fahrt in diversen Rückblenden - Erinnerungs-Hopping mit mehreren, symbolträchtigen Stationen: Die Haltestellen heißen (verbotene) Liebe, deutsche Geschichte, S. und O. Aber die wichtigste ist natürlich, etwas pathetisch formuliert, wie fast immer die Endstation Sehnsucht, denn alle drei sind sie entweder auf der Suche nach ihrer Vergangenheit oder nach einer Zukunft.

S. ist eine Kleinstadt im Ruhrgebiet, in die Lena nach dem Tod ihrer Mutter und einer gekappten Schauspielkarriere zurückkehrt. In S. bündelt sich die Sehnsucht nach einem Platz, an den man hingehört: "Heimat ist dort, wo man sagen kann, die Frau da drüben trug als Mädchen eine Zahnspange. Der Ort, wo Lena das sagen konnte, war S." Lena ist Anfang 40 und trifft den drei Jahre jüngeren Ludwig wieder, eine Jugendliebe, die sich zu Gott geflüchtet hatte, Priester wurde und sich schließlich wieder dem Weltlichen zuwendet. Die beiden raufen sich in einem komplizierten Arrangement zusammen, beschließen für ihre Beziehung eine "Verlängerung" wie beim Fußball, aber man ahnt schnell, dass hier eine fragile Verbindung geschlossen wurde und das Glücklich-sein anders als beim Fußball keine Sieger kennt. "Sie waren ruhig. Ludwig hatte keine Pfarrei, sie kein Engagement mehr. Zusammen war das zweimal nichts. An einem abseitigen Tisch neben dem Zigarettenautomaten lasen sie sich leise vor. Das Vorlesen wurde ihre Art, in fremden Sätzen miteinander zu reden."

Die Fremdheit ist nicht allein Sache von Lena. Auch Julius Dahlmann hat da einiges zu bieten und ein paar unverdaute Erinnerungen im Keller eines kleinen Häuschens in S. verstaut. Dahlmann und Lenas Mutter kannten sich schon als Kinder, ließen sich nicht mehr aus den Augen, aber die beiden waren trotzdem "nur in einer unsichtbaren Ordnung füreinander bestimmt gewesen." Geheiratet hatte Marlis einen anderen, Lenas Vater eben.

Der leicht effeminierte Dahlmann hat seine Kindheit in der polnischen Stadt O. verbracht, die glücklichste Zeit seines Lebens und eine traumatische zugleich. Hier genoss er Privilegien, hier war er das Kind der Herren. Sein Vater war zunächst Dorfgendarm gewesen, der in polnischen Dörfern kleine Ganoven zur Strecke brachte und große Hunde hielt. "Das mit den Hunden hat er im Lager weitergemacht." O. steht für Oswiecim, und Oswiecim ist Auschwitz.

Nach dem Tod der Mutter mietet sich Lena ein Zimmer im Haus von Dahlmann, der langsam anfängt, über seine Kindheit zu reden. "Er versteckt O. in S. Und was verstecke ich?" fragt sich Lena. Und man vermutet richtig: Diese Frage könnte zum Kern des Romans führen. Aber nicht nur dahin, sondern wiederum nach O., denn "Polen kommt ihr vor wie ein Ort, an den sie zurückgekehrt ist, obwohl sie nie dort war. Polen ist ein Ort ihrer geheimsten inneren Geographie."

Wenn man diese nur so richtig durchdringen könnte. Aber die Seelenlandschaft von Lena ist ein ziemlich schwer zugängliches Gebiet. Die Frau in der Midlife-Crisis schützt sich vor allzu viel Nähe mit einer undurchdringlichen "Regenhaut". "Seelenzellophan. Falls einer sie anrührte, konnte sie so tun, als berühre er ihre Haut. Was von ihr blieb, war, was sie spielte." Mehrmals lesen wir diese Wendung: "Sie versteckt, dass sie wenig zu verstecken hat. Was bleibt ist, was man spielt." Man spürt in solchen Sätzen die Angst, da finde sich nicht allzu viel unter der Oberfläche. Vielleicht ist Lenas wirkliches Leben nicht mehr als die Fortsetzung der Schauspielerei mit anderen Mitteln. Aber Lena sehnt sich nach einer anderen Wirklichkeit, sie möchte etwas von ihrer Leere mit Geschichte auffüllen. Mit der von Julius Dahlmann. Und mit einer Liebesgeschichte. Mit Ludwig scheint ihr das zunächst zu gelingen. Aber um sich tatsächlich lebendig zu fühlen, braucht sie "ein heimliches und unordentliches Leben".

Also geht es nicht lange gut mit Lenas Liebe Ludwig. Zuerst schiebt sich eine räumliche, dann auch eine gefühlstechnische Distanz zwischen die beiden. Lena nimmt sich einen Liebhaber, der ausgerechnet als Torwart in einer Fußballmannschaft in S. spielt und die Verlängerung im Ludwig-Spiel beendet, indem er Lenas Eigentor zulässt. Als Andrian, so heißt der sportliche junge Mann, mit seiner Mannschaft zu einem Freundschaftsspiel nach Polen fährt, lässt Lena alles stehen und liegen und fährt hinterher. "Zu schnell fahren, das hatte ihr oft das Leben gerettet. Mit dem Auto hatte sie schon ganz andere Stimmungen abgehängt als diese. Auf irgendeiner Landstraße überholte sie den Mannschaftsbus." Aber so richtig gelingt ihr die Flucht nach vorn nicht. Dahlmann lässt sich nicht abschütteln, macht sich ebenfalls auf nach O. "Wie hat es angefangen, dass jetzt der eine dem anderen hinterherfährt, die Gründe aber abtut und sich auf die Frage 'warum' mit 'warum nicht'? antwortet. Dahlmann sagt, er fährt in die alte Heimat, und ist seiner Untermieterin hinterhergefahren. Sie, die Untermieterin, sagt, ich fahre wegen eines Fußballspiels hin, und ist vielleicht nur einem Fußballer hinterhergefahren, der nicht Ludwig ist." Und Dahlmann begegnet in O. nicht nur seiner Kinderzeit, sondern auch dem Priester Richard Franzen, einem alten Freund. Womit unsere Fahrgemeinschaft komplett wäre.

Der Text kreist in immer neuen Anläufen um seine Figuren, und die Figuren kreisen ein wenig ratlos um ihre und die große Geschichte. Dabei häufen sich unaufhörlich Fragen an: Was ist das mit diesem Auschwitz? Haben wir es einfach, wie Andrian meint, mit einem "Kaff" zu tun, in dem Fußballspiele stattfinden, in dem gegessen, geschlafen, geliebt, gelebt wird - ganz normal, jeden Tag? Ist es für Lena ein Ort der Katharsis, findet sie etwas wieder, was in ihrem Leben verloren gegangen ist? Und welche Rolle spielt dann Auschwitz als Metapher für das Unvorstellbare? Was hat ein Fußballspieler, Anfang 20, damit zu schaffen, mit dieser Metapher, mit dem Lager und den Vitrinen, in denen das Haar der Ermordeten ausgestellt wird? Gerät Lena dort plötzlich in eine Vergangenheit, die auch ihrem Leben eine neue Richtung gibt? Und was hat es mit Lenas Angst vor Fluren auf sich? Und dass sie ausgerechnet im Flur von Dahlmanns altem Zuhause in O. von Andrian, ja, anders kann man es wohl nicht sagen, genommen wird? Und welche Bedeutung hat das Katholische: Ist Lena, die eigentlich Magdalena heißt, eine Sünderin vor dem Herrn? Hat Lena den kleinen Ludwig ins Zölibat getrieben und - dornenvögelmäßig - wieder daraus befreit?

"Wer erzählt, hat eine Frage", sagt Lena. Wer liest, hat gleich mehrere. Und so leicht und eindeutig, wie man es sich manchmal wünschte, lassen die sich nicht auflösen. Judith Kuckart macht es auch uns nicht einfach: Sie verstrickt die Leser nicht nur in die zickzackförmigen Lebensläufe ihrer grübelnden Helden, die sich als Solitäre durchs Leben schlagen und so gerne zusammen mit den anderen Solitären ihre Einsamkeit überwinden würden. Kuckart lässt sie auch ratlos vor einem Haufen an Geschichte zurück, die plötzlich nicht mehr abstrakt ist, sondern sich in diese Lebensläufe eingeschrieben haben. Die meisten Fragen lassen sich nicht auflösen, nur ertragen. Judith Kuckart hat ein ruhloses Buch voller Widersprüche geschrieben. Es liefert keine wohlfeilen Antworten. Aber einen Hoffnungsblick in die Zukunft. In Berlin angekommen trifft Lena ihren Ludwig wieder. Vielleicht wird es ja doch noch was mit dem Glück und einer eigenen Geschichte.

Titelbild

Judith Kuckart: Lenas Liebe. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2002.
302 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3832159185

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