Das Entstehen einer Grenze durch den Grenzüberschritt

Der Kölner Germanist Peter Fuß untersucht die Funktionen des Grotesken

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chimärische Zwitterwesen mit Tierkopf und Menschenleib, androgyne Riesen mit weiblichen Ober- und männlichen Unterkörper, winzige Zwerge, die von einer riesigen Hand zerquetscht zu werden drohen - all diese oder ähnliche Phänomene bevölkern als groteske Gestalten schon seit der Antike unser Denken und unsere Vorstellungskraft. Schon in frühzeitlichen Höhlen wurden Malereien gefunden, die groteske Motive wie einen "spitzohrige[n] Zweibeiner mit einem Schnabel an der Schulter" darstellten. Seit diesen frühen Kunstformen üben groteske Motive auf ihre Betrachter eine große Faszination und gleichzeitig jene spezifische Mischung von Angezogensein und Abstoßung aus, die für das Groteske charakteristisch sind. Nackte Frauengestalten, die auf den ersten Blick sehr anziehend wirken, erweisen sich in der grotesken Darstellung als Chimäre mit Teufelsschweif.

Jene "groben Späße und absonderlichen Abenteuer", jene "Ausgeburten einer entfesselten Imagination" sind seitdem vor allem in der Malerei des Mittelalters und der Renaissance von großer Bedeutung gewesen - man denke nur an Hieronymus Bosch, dessen düstere Welten von Mischwesen aus Teufeln, Tieren und Menschen bevölkert wurden. In dem Maße, in dem das Groteske in der Bildenden Kunst an Bedeutung gewann, wurden die Techniken des Grotesken wie die Morphologisierung von Tier und Mensch oder eine monströse Dimensionsverschiebung auch in der Literatur immer wichtiger. Machte die "Affentheurliche Naupengeheurliche Geschichtklitterung" von Johan Fischart von 1575 den Anfang mit einer Umsetzung grotesker Vielfalt in die Schriftsprache, so ist auch die weitere Literaturgeschichte erfüllt von unzähligen Beispielen grotesker Ausdrucks- und Stilformen. Ein Zeuge hierfür ist der weltberühmte Roman "Gullivers Reisen" von Jonathan Swift (1726) mit seiner monströsen Dimensionsverschiebung.

Der Kölner Germanist Peter Fuß hat sich nun eingehender vor allem mit der literaturtheoretischen Bedeutung des Grotesken beschäftigt. Das Groteske ist für ihn nicht nur ein Medium zur Darstellung der "entfremdeten Welt" wie bei Wolfgang Kayser, dessen Werk "Das Groteske. Ein Versuch einer Wesensbestimmung" (1957) bis heute Referenz geblieben ist, sondern vor allem ein "Medium des kulturellen Wandels". Dabei übersetzt Fuß die Techniken des Grotesken wie Invertierung, Chimärenbildung oder Monstrositas-Formen auf die höhere Ebene einer Kulturtheorie.

Das Groteske, so Fuß, sei ein "Produkt einer virtuellen Anamorphose der symbolischen Ordnungsstrukturen jener Kulturformation, in der es grotesk wirkt". Dies bedeutet, dass sich das Groteske bei der Neukombinierung von Vorhandenem auf die jeweilige Realität der Kultur, beispielsweise die bestehende Gesellschaftsordnung, beruft. Die Dekomposition jener Ordnung geschehe dann auf den Bereichen der "Sprachordnung, Verhaltensordnung, Erkenntnisordnung und Geschmacksordnung" sowie auf den ihnen zugrundeliegenden "dichotomischen Raster[n] verständlich/unverständlich, gut/böse, wahr/falsch und schön/hässlich". Diese These erscheint sinnvoll und stimmig, erinnert man sich etwa an die Invertierung als Ausdrucksmittel der Groteske, in der die herkömmlichen Dichotomien umgekehrt und so dekonstruiert werden. Das Groteske, so folgert Fuß weiter, erreiche sein Ziel der Dekomposition und schließlich des Kulturwandels durch die Herstellung einer Unbestimmtheit und Unsicherheit in Bezug auf die dem gesellschaftlich-moralischen Konsens unterworfenen und bis zur Dekomposition nicht infrage gestellten Regeln der Kulturformation: "Das Groteske liquidiert den dichotomischen Aufbau symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen und ersetzt ihre Antagonismen durch Ambiguität".

Dadurch also, dass das Groteske Dinge verkehrt und in Frage stellt, die bis dahin als Antagonismen, als religiös, soziokulturell oder tradiert-geschichtliche Sicherheiten sozusagen nicht diskutabel waren, schafft es eine Mehrdeutigkeit, die den Rezipienten die Richtigkeit der vorherigen Ordo anzweifeln lässt. Mit dieser Tatsache steht für Fuß auch eine "konstitutive Kernparadoxie" des Grotesken fest: "Es ist Teil jener Ordnung, deren (immanente) Dekomposition es betreibt. Es ist zugleich diesseits und jenseits der Grenzen seiner kulturellen Formation".

Den Vorgang der Grenzziehung zwischen Erlaubtem und Unerlaubten einer Kulturformation beschreibt Fuß folgendermaßen: Indem eine Kultur das ihr Fremde und Unerlaubte marginalisiere, d. h. verschweige bzw. es als nicht zu begründende Tatsache aus ihrer Gesellschaft und deren Wertediskussion ausschließe, konstituiere sie ihre Grenzen. Im Grotesken jedoch komme jenes Ausgeschlossene und Marginalisierte erstmalig wieder zur Sprache, es werde benannt und konkretisiert auf ein Bild, personifiziert beispielsweise durch einen chimärischen Dämon Hieronymus Boschs. Das Fremde werde "rezentriert", wieder ins Zentrum der Diskussion und Auseinandersetzung gerückt. In dieser Rezentrierung, so Fuß, "kollidiert die Kultur mit ihrem Fremden. Diese Kollision erschüttert den Schein der Unhinterfragbarkeit, mit dem die Kulturordnung sich im Zuge ihrer Instituierung umgibt, durch den Hinweis auf mögliche Alternativen." Das Phänomen der Grenze versteht Fuß im Sinne Michael Foucaults, dem zufolge sie erst im Akt des Übertretens geschaffen werde: Die Übertretung "setzt Grenzen und setzt sich zugleich über sie hinweg". Die Grenze zwischen den Dichotomien wird erst im Moment der Entstehung des Grotesken gezogen, da der Kulturformation die Grenze des Erlaubten durch die klar tradierte, außerhalb jeder Diskussion stehende Verbannung des Verbotenen überhaupt nicht bewusst war.

Fuß bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf die These Wolfgang Kaysers, das Groteske verliere seine Wirkung, wenn es benannt, wenn ihm also ein Platz in der Kulturformation zugewiesen wird. Fuß stimmt Kayser zu, wenn er sagt, "die Fremdheit, die Nichtzugehörigkeit des Grotesken zur kulturellen Ordnung [sei] eines seiner Hauptkennzeichen." Doch führt er weiter aus: "Aber gerade in seiner Nichtzugehörigkeit ist es Teil der Kulturformation" - da eine Kulturformation ihre Grenze selbst bestimmt, liegt Fuß zufolge auch dasjenige außerhalb dieser Grenze innerhalb der Kulturformation.

In der Folge, so Fuß, entsteht eine Unentscheidbarkeit zwischen den so fest geglaubten Dichotomien, "die zur Quelle der Veränderung werden kann. Die virtuelle Anamorphose symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen eröffnet die Möglichkeit ihrer realen Transformation und hält die Kulturformation in Gang." Fuß betont an dieser Stelle explizit den "virtuellen" Charakter der Anamorphose, den sie ja tatsächlich hat: Groteske Erscheinungsformen sind nicht realiter vorhanden, sondern in der bildenden Kunst und der Literatur lediglich ein Gedankenprojekt, das aber gleichwohl zum Ausgangspunkt einer realen Veränderung werden kann. Fuß zufolge ist dieser Vorgang der Transformation ein extrem wichtiger und sogar essentiell notwendiger für eine Kulturformation: "Andernfalls würde sie auskristallisieren, erstarren und schließlich zerbrechen." Der Vorgang der Einspeisung von Unsicherheit und Ambiguität in das System der Kulturformation beruht laut Luhmann vor allem auf zwei Phänomenen: Der Erwartungsenttäuschung und dem Widerspruch. Beide Phänomene dürfen als charakteristisch für das Groteske gelten.

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass Fuß die Verbindung des Grotesken zum Klassischen hervorhebt: Das Groteske stehe, so Fuß, "in Opposition zum Klassischen. Nur das Zusammenspiel der grotesken Liquidation und der klassischen Stabilisation symbolischer Ordnungsstrukturen ermöglicht die kulturelle Formation".

Das Groteske ist also eine "anthropologische Konstante" einer Gesellschaft, die als "Mechanismus der Kreativität" mit dem Klassischen, Tradierten, Reaktionären um die Veränderung der gesellschaftlichen Verhaltens- und Normmuster im Wettstreit steht. Diese These ist hat Hand und Fuß, kann sie doch anhand von zahlreichen Textbeispielen aus der Literaturgeschichte belegt werden. Erinnert sei hier beispielsweise an die "Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung" von Johan Fischart, der das Groteske dort als Ausdrucksmittel seiner Orientierungslosigkeit in einer Epoche zwischen ausgehendem Mittelalter und anbrechender Neuzeit verwandte. Andere Beispiele wie "Der goldene Topf" E. T. A. Hoffmanns zeugen von einer Groteskennutzung zur Abgrenzung geistes- wie literaturgeschichtlicher Epochen voneinander; Friedrich Dürrenmatt nutzt das Groteske als Enttarnung der Weltgeschichte selbst: Bei ihm ist es die Welt, die durch den Zufall bestimmt wird, für den Menschen unplanbar bleibt und so als groteske Kernparadoxie des Lebens in die vermeintlich berechenbare Normenwelt des Menschen eindringt.

Peter Fuß' Studie des Grotesken ist somit ein überaus reichhaltiges Kompendium, das besonders durch die Tiefe der Darstellung und die gleichzeitige Berücksichtigung literartheoretischer Aspekte und belegender Textstellen.

Zwar kann ein direkter kausaler Nexus zwischen der Groteskennutzung und einem kulturhistorischen Wandel in den seltensten Fällen realiter belegt werden, da die Epochengrenzen fließend sind und erst in der literargeschichtlichen Retrospektive ungefähr festgelegt wurden; gleichwohl trifft Fuß den Kern der Dinge, wenn er das Groteske als eine wesentliche Voraussetzung für einen kulturellen Wandel begreift.

Deutlich wird bei ihm, wie sich einerseits verschiedene Geistesströmungen und -auffassungen mit Hilfe des Grotesken voneinander abzugrenzen versuchen (vgl. Johan Fischart bzw. E. T. A. Hoffmann); wie andererseits aber auch jenseits aller Epochengrenzen in der Zeit der Postmoderne und der Ablehnung jeglicher Ideologien wie bei Dürrenmatt das Groteske als Ausdrucksmittel einer individuellen Weltsicht genutzt wird.

Allein die Tatsache, so die Schlussfolgerung, dass wir uns mit derartigen Grotesken beschäftigen, bedingt schon einen Wandel der Kulturformation - vielleicht nicht nachweisbar im großen Rahmen, wohl aber doch im individuellen Verständnis des jeweiligen Rezipienten. Insofern ist wohl jede gute Literatur ein Medium des zumindest persönlichen Normen- und Kulturwandels.

Titelbild

Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels.
Böhlau Verlag, Köln 2001.
512 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3412079014

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