Liebe, Lust und Leidenschaft im Zerrspiegel der Naturwissenschaften
Prädominiert Biologie die Kultur?
Von Christine Kanz
und Rolf Löchel
Kulturwissenschaften finden nicht statt. Nicht im Spektrum der Wissenschaften, wie Bernulf Kanitschneider sie in einem Sammelband präsentiert, um sich dem Thema menschlicher Sexualität mit deskriptivem und normativem Interesse zu nähern.
„Will man das Verhältnis zwischen Biologie und Kultur verstehen, muß man die in der Evolution entstandene Architektur unseres Denkens verstehen“, heißt es in einem der Beiträge. Biologie prädominiert also Kultur, so das implizite Credo, das die Mitarbeiter des Buches verbindet, vorwiegend Biologen, Zoologen, Mediziner und Psychotherapeuten, die allesamt als harte Naturwissenschaftler auftreten, außerdem ein Theologe und Kanitschneider selbst, Professor für Philosophie der Naturwissenschaften in Gießen.
Die Erwartungshaltung, die Titel und Untertitel beim potentiellen Leser wecken, wird enttäuscht. Man verspricht sich mehr als bloße Naturwissenschaft und rein empirische Untersuchungen, wie etwa die wiederholt zitierte von W. Masters und V. Johnson zu sexuellen Reaktionen von Männern und Frauen. In ihr werden kulturell geprägte Ergebnisse als anthropologische Konstanten und somit als kulturinvariant interpretiert. Ähnliche Erhebungen finden sich in fast allen Beiträgen. Kulturtheoretische Überlegungen hingegen sucht der interessierte Leser vergebens. Und Liebe, Lust und Leidenschaft, die doch der Titel zu beleuchten verspricht, scheinen geradezu Anathemata zu sein, insbesondere die Liebe.
Selbst in dem Beitrag der Kommunikationsforscherin Christiane Tramitz, in dem es immerhin um die „Kontaktanbahnung“ zwischen Mann und Frau geht. Ambivalente Gefühle, ein Gemisch aus Interesse und Neugierde einerseits, aus Angst und Unsicherheit andererseits dominieren den emotionalen Zustand jedes Menschen, ob Frau oder Mann, bei sogenannten Erstkontakten. Das sind all jene Situationen, die nach dem allerersten Blickwechsel zwischen zwei Menschen ablaufen: die Scheu, die jede und jeder angesichts eines fremden Menschen empfindet, ist, so die Kommunikationsforscherin, eine anthropologische Konstante, ist angeboren. Die Mischung dieser divergierenden Gefühle entscheide dann, ob der Mensch in „sozialer Hemmung“ verharre, ob also Angst und Unsicherheit die Oberhand gewinnen, oder ob seine Neugier und Selbstsicherheit derart wachsen können, daß er den „zweiten Blick“ in Angriff nimmt.
Obgleich Tramitz ein so originelles wie spannendes Thema aufgreift, enttäuscht nicht nur ihr rein ethologisch bleibender Ansatz, der den Menschen zuallererst als triebgeleitetes Tier begreift, das bei sämtlichen Kontaktanbahnungen lediglich seinem Fortpflanzungstrieb frönt, sondern auch die Tatsache, daß sie alle Erkenntnisse der Gender Studies unberücksichtigt läßt. In ihren Experimenten weist die Verhaltensforscherin „der Frau“ lediglich den Objektstatus eines „attraktiven Lockvogels“ zu. Die Frau sendet Signale aus, auf die der Mann in typisch männlicher Selbstverkennung bzw. -überschätzung ununterbrochen hereinfällt: „Der scheinbar flüchtige Blick – ein Lächeln – das Spiel mit dem Haar: Diese weiblichen Körpersignale werden von Männern meist als Aufforderung zum Kontakt interpretiert.“ Daß auch ein Mann einmal als „attraktiver Lockvogel“ fungieren könnte – zumindest kurzzeitig und lediglich für das Experiment! – scheint außerhalb von Tramitz‘ Vorstellungsvermögen zu liegen. Entsprechend häufig präsentiert sie in ihrem Text urälteste Platitüden und abgegriffenste Geschlechterstereotypen: stets ist vom „männlichen Mut der Kontaktaufnahme“ und von der „sexuell auffordernden Körpersprache der Frauen“ die Rede. Das Attribut „Schönheit“ kommt bei ihr allein dem weiblichen Geschlecht zu. Und eben nur das: „Frauen ‚paradieren‘, wo sie gefallen wollen: Die Hüften werden geschwungen, der Bauch eingezogen, die Brüste hervorgehoben.“ Tramitz hält es zudem für gesichert, „daß Frauen zwar auf einer subtileren, dafür um so effektiveren Ebene mitbestimmen, wie eine Begegnung verläuft.“ Die Frau als raffiniertes, lediglich auf der subtilen Ebene etwas ausrichtendes Geschöpf; Verstellung, Täuschung und subtile Manipulation als weibliche Geschlechtscharaktere. Haben wir das nicht alles schon oft, viel zu oft zu hören bekommen – u.a. von Kant, Schopenhauer, Nietzsche und Weininger? „Der rationalistische Abbau von Vorurteilen ist zweifellos am besten über den Weg der Information zu bewerkstelligen“ – diese im Vorwort von Kanitschneider vorgegebene Richtschnur des Bandes wird von Tramitz nicht eingelöst.
In engem thematischen Zusammenhang mit ihren Ausführungen steht der Aufsatz des Sexualmediziners und Psychotherapeuten Kurt Loewit über „Sexualität als Körpersprache“. Menschliche Sexualität begreift er als eine Form der Körpersprache, der eine erhebliche Kommunikationsfunktion innerhalb von Beziehungen zukommt. Ist sie gestört, so muß, laut Loewit, davon ausgegangen werden, daß es auch die anderen Kommunikationsformen des Paares sind, daß die Beziehung also beeinträchtigt ist und damit auch die „Quelle psychosozialen Wohlbefindens und psychosomatischer Gesundheit.“ Immerhin, Loewit gesteht zu, daß es jenseits heterosexueller Geschlechterverhältnisse noch weitere mögliche Konstruktionen von Sexualität geben könnte, etwas ‚outside of the frame‘. Allerdings ändert aus seiner Sicht „auch die sexuelle Orientierung […] im Prinzip nichts an den Inhalten, Bedingungen und inneren Gesetzmäßigkeiten sexueller Kommunikation. Grundsätzlich gibt es nur eine Sexualität in hetero-, bi- und/oder homosexueller Erscheinungsform.“
Kanitschneider behandelt in seinem Beitrag nicht, wie der Titel „Sexualität und Philosophie“ verspricht, die Haltung heutiger Philosophinnen und Philosophen zur Sexualethik. Er konstatiert nur kurz, und wie uns scheint, zu unrecht, „daß sich die Philosophen der Gegenwart fast vollständig von diesem Fragenkomplex [der normativen Sexualethik] abgewendet haben“. Auch bleibt die angekündigte systematische Erörterung aus. Statt dessen legt er eine holzschnittartige Geschichte der Sexualphilosophie vor, deren, wie er suggeriert, einziges Organon, die apriorische Deduktion zur Erkenntnisstiftung, sich als untauglich erwiesen habe. Zudem habe sie sich in toto den sexualfeindlichen Interessen der Religion dienstbar gemacht. Insgesamt erweist sich die abendländische Philosophie also als körper-, lust- und somit sexualfeindlich. Ein im großen und ganzen sicher zutreffendes Verdikt, wenn auch einzelne Stellen mit Stirnrunzeln quittiert werden müssen. So etwa, wenn er kurzerhand von „den lustfeindlichen Kynikern“ spricht, ohne den auf dem Athener Marktplatz onanierenden Diogenes zu bedenken, oder Nietzsches Übermenschen als zukünftiges Menschenbild fehlinterpretiert.
Etwas tiefere Einkerbungen im Relief der Philosophiegeschichte erfährt allein Kant. Ihm lastet Kanitschneider an, „die verhängnisvolle Entwicklung einzuleiten, die im 19. Jahrhundert dazu geführt hat, diese moralische ‚Verfehlung‘ [die Onanie] in eine Krankheit zu transformieren, mit der man eine Fülle schädlicher Effekte verband, vom Schwachsinn bis zur körperlichen Hinfälligkeit“. So exkulpiert er die Mediziner des 19. Jahrhunderts, als seien nicht sie es gewesen, die diese Diagnosen stellten und den „theoretischen“ Hintergrund dazu lieferten. Eine von Loewit im gleichen Band genannte Publikation eines Docteur Tissot mit dem Titel „L‘onanisme ou dissertation physique sur les maladies produites par la masturbation“ aus dem Jahre 1760 scheint Kanitschneider unbekannt zu sein. Weniger positiv als Kanitschneider äußert sich Loewit denn auch zur Rolle „der Medizin im Umgang mit der menschlichen Sexualität“: „Zu lange hat sie sich als Erfüllungsgehilfin gesellschaftlicher einschließlich religiöser sexualfeindlicher und dualistischer Strömungen angeboten, hergegeben und mißbrauchen lassen.“ Hier findet sich exakt das Verdikt, das Kanitschneider über die Philosophie verhängt.
Kanitschneider, eher Naturwissenschaftler als Philosoph, dient Philosophie als bloße Negativfolie, vor der sich Evolutionsbiologie, klinische Sexologie, Biopsychologie und deren empirisch induktive Methode strahlend abheben können. Ihre Erkenntnisse der „biologischen und anatomischen Fakten“ des Menschen legten die „natürlichen Dispositionen“ der menschlichen Sexualität offen und erschlössen so den Menschen die Möglichkeit, sich zu ihr zu befreien. So zeigt er sich blind gegenüber dem Umstand, daß Sexualität, wie alles Menschliche immer schon kulturell nicht nur vermittelt, sondern bestimmt ist. Der von ihm gegen Thomas von Aquin erhobene Vorwurf eines „normativ aufgeladenen Naturbegriffs“ fällt, auch wenn er sich dagegen verwahrt, auf ihn selbst zurück. Strikt biologistisch argumentierend behauptet er eine „evolutionsbedingte Disposition zur Promiskuität, allerdings für Männer und Frauen in unterschiedlicher Stärke, weil die reproduktiven Potentiale verschieden“ seien und begrüßt entsprechend die „Naturalisierung des Phänomens der Geschlechtlichkeit durch die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie, der Biopsychologie und das anwachsende Wissen der klinischen Sexologie“. Diese Erkenntnisse machten eine spezielle Sexualethik obsolet, und es sei die einzig den Philosophen verbleibende Aufgabe, dies den Menschen einsichtig zu machen. Unberücksichtigt bleibt der kurzerhand als inexistent behauptete emanzipatorische sexualphilosophische Diskurs des (ausgehenden) 20. Jahrhunderts, wie er insbesondere von Vertretern der frühen Kritischen Theorie (Fromm, Marcuse, aber auch Adorno) betrieben wurde und heute von Poststrukturalisten, Postmodernisten und feministischen Theoretikerinnen geführt wird.
Was für Kanitschneiders Aufsatz im besonderen gilt, gilt gleichermaßen für das Buch als ganzes: Die Absenz des gegenwärtigen sexualwissenschaftlichen Diskurses kulturwissenschaftlicher Provenienz erweist den der Sexualität vorgehaltenen Spiegel als blindfleckig; und der nahezu durchgängige biologistische Reduktionismus zeigt ihn als Zerrspiegel, der etwa den Kampf der Geschlechter allein auf der Ebene der Pheromone stattfinden läßt und der die „für Männer und Frauen in unterschiedlicher Stärke [vorhandene, da] evolutionsbegründete Disposition zur Promiskuität“ damit erklärt, „daß die reproduktiven Potentiale verschieden sind“.