Chris Kraus lädt ein zum "Scherbentanz"

Ein gelungenes Romandebüt bei der Frankfurter Verlagsanstalt

Von Oliver SeppelfrickeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Seppelfricke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor mehr als 20 Jahren rechnete ein junger Schweizer, der sich bezeichnenderweise Fritz Zorn nannte, mit seiner finanziell noblen, aber gefühlsmäßig armen Herkunft ab - aus einer Familie, die am Zürisee wohnt auf einem Hügel, den man den "Goldberg" nennt. Denselben Furor und dasselbe Pathos kann man nun in einem Roman lesen, mit dem der deutsche Schriftsteller und Filmregisseur Chris Kraus debütiert. "Scherbentanz" lautet der sprechende Titel.

"Wenn Du am Boden bist, bist Du auf dem Weg nach oben", lautet das Motto dieses Romans mit einem Satz von William Bourroughs. Bei Chris Kraus ist es nicht so. Sein Ich-Erzähler Jesko ist am Boden, aber er befindet sich auf dem Weg nach unten: Er ist leukämiekrank, 33 Jahre alt, auf dem Weg in den Tod und nach Hause zu den Eltern, in die stacheldrahtumzäunte, panzerglasgesicherte Villa des Fabrikbesitzers Solm. Das Haus gleicht einer Festung, ein deutliches Bild für den Zustand dieser Familie - wo sich viele Panzer um die Seelen gelegt haben, wachgehalten durch ständig neue Verletzungen. "Solm Zement vom feinsten" stellt die Firma schließlich her, sogar die Atlantikbunker soll sie ausgerüstet haben, Zement - ein Stoff für die Ewigkeit.

Jesko, der Erzähler, der Sensible in der Familie, Modedesigner und Modejournalist, ist also auf dem Weg zu seinen Wurzeln, zurück zum Elternhaus und in seine Vergangenheit. Bei seiner Ankunft im Haus liegt seine Mutter auf einer Tischtennisplatte, blutend, im Trainingsanzug. Als Gräfin hatte sie sich ausgeben, um auf die Party ihres Ex-Mannes zu gelangen, von dem sie längst getrennt lebt, die Kehle hat sie ihm durchschneiden wollen. Vater und Ex-Ehemann Gebhard blutet auch, ist aber ansonsten gefasst, der Fels in der Brandung, stark und autoritär, wie in der Firma. Seine Frau hatte er vor Jahren schon durch eine Sekretärin ersetzt, nachdem die Ehefrau schlicht verrückt geworden war, mehrere Nervenheilanstalten durchlaufen hatte, zur Kleptomanin geworden war. 20 Jahre lang haben sich die nun obdachlose Mutter und ihr Kind Jesko nicht gesehen.

Man hat eine Vorstellung von dem, was da auf einen zukommen wird: Eine Geschichte aus Hass, Lügen, Eifersucht und Neid, aus Intrigen und verletzten Gefühlen, einzig zu ertragen durch Alkohol, Tabletten oder sonstige Verdrängungsmittel, von denen es reichlich gibt im Hause Solm - Hut ab vor diesem furiosen Auftakt! Zehn Seiten haben Chris Kraus dafür gereicht.

Dann kommt die wahrhaft makabre Handlung in Gang. Die Mutter soll, wenn sie schon einmal da ist, dem kranken Jesko eine lebensverlängernde Knochenmarkspende geben. ,Soll' ist hier das richtige Wort. Denn die Mutter, die eine wirklich Verrückte ist, immer kurz vor der Einweisung oder vor der Entmündigung, wird verhandelt wie eine Ware, wie ein Sack Zement. Man kann sich als Leser oft kaum entscheiden, ob man lachen oder weinen soll, so absurd und doch so realistisch ist das ganze! Man wartet auf die Katastrophe, auf die alles zuläuft. Am Ende steht ein Showdown, der wie immer, wenn schreibende Filmer am Werke sind, etwas zu deutlich ausfällt und bedenklich nahe an Kitsch und Klischees gerät. Aber immerhin: Auf 200 Seiten hat Chris Kraus mehr als gut unterhalten. Er hat nachdenklich gemacht mit seiner Geschichte um verpasste Chancen, um verfehlte Hoffnungen und Lebensniederlagen. Er erzählt sie realistisch und absurd, so wie das Leben heute manchmal ist ... In der Geschichte der Familie Solm spielen neben den Verletzungen der Vergangenheit auch noch die NS-Zeit und das Flüchtlingsschicksal eine Rolle, Erweiterungen, die der Autor gut in sein Familiendrama einbetten kann. Die Krankheit des Erzählers findet dort ihren Grund. Kraus' Sprache ist plastisch und bilderstark, die Dialoge sitzen, die Beschreibungen verfangen: ein Buch wie ein Drehbuch, könnte man meinen, ist es auch fast! Denn Chris Kraus hat sein Buch kurz nach der Fertigstellung auch verfilmt. Mit Jürgen Vogel als Jesko in der Hauptrolle ist der Film ab Sommer in den Kinos zu sehen. Jetzt schon kann man zum Buch greifen. Das endlich einmal kein "Buch zum Film" ist, sondern: Ein Buch wie ein Film! Eine gelungene Lesegeschichte, die sich vor dem inneren Auge abspielt, ein Roman, der wie ein Film abspult.

Titelbild

Chris Kraus: Scherbentanz. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2002.
200 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3627000900

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