Gestohlene Jugend

Hans-Gerd Winters Sammelband über den Schriftstellernachwuchs nach 1945

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1947 kehrte der kommunistische Schriftsteller Stephan Hermlin nach Deutschland zurück. Aus dem schweizer Exil zunächst in die US-Zone des besiegten NS-Deutschland gekommen, sprach er von der dortigen zeitgenössischen Literatur als einer "auf Demokratie umfrisierten Innerlichkeit". "Das stelzt", spottete Hermlin, "prophetisch-priesterlich drapiert, in erschütternd-komischem Ernst dahin".

Nicht jeder hatte damals einen so unbestechlichen Blick. Noch heute kursieren abstruse Überschätzungen derjenigen, die in einem geistig vollkommen verseuchten Land antraten, um literarisch "ganz von vorne" zu beginnen.

Die vielbeschworene "schweigende jungen Generation" der deutschen Nachkriegsliteraten war immerhin beredter als es die Legende will. Doch kaum einer von ihnen wurde zu dem "Klassiker der Weltliteratur", für den der Autor Alexandre Marius Dées de Sterio den früh verstorbenen Hamburger Wolfgang Borchert in seinem Beitrag zum besprochenen Band erklärt.

Wie in germanistischen Sammelbänden üblich, wird leider auch hier oft unentschieden laviert, unkritisch geurteilt oder einfach nur Unsinn geschrieben. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass sich der ganze Band so der Schwärmerei hingibt und ein Talent wie Borchert "durch seine literarisch verbrämten philosophischen Darstellungen in den großen weltweiten Kreis der humanistischen Denker" aufgenommen sehen möchte, wie Dées de Sterio.

Tatsächlich war die literarische Sachlage nach '45 weit weniger glänzend. Denn wie soll man schreiben, wenn man in den beiden prägenden Lebensjahrzehnten nur Nationalsozialismus, Blut und Boden-Literatur und eliminatorischen Antisemitismus kennengelernt hat? Und damit nicht genug: Zwischen dem prägenden Kriegserlebnis und dem anmaßenden Anspruch eines "positiven Neubeginns" eingeklemmt, den Theodor W. Adorno im Rückblick auf Auschwitz später nur barbarisch nennen konnte, wurde diese Altersgruppe von selbsternannten "inneren Emigranten" wie dem Nazi-Opportunisten Frank Thiess auch noch weiter bevormundet.

Thiess hielt sich nicht als einziger für berufen, mit markigen Werten wie "Tapferkeit" und "Treue" als geistiger und moralischer Führer der "Jungen" aufzutreten. Diese restaurative Atmosphäre mochte dem beschädigten "Nachwuchs" nach dem Krieg wohl kaum dazu gereichen, sich von den prägenden sprachlichen und ideologischen Grundregeln zu lösen, mit denen man aufgewachsen war.

Angeklagt wurde in den aus dieser Ausgangslage resultierenden Texten meist nur die nationalsozialistische "Verführung" durch die Vaterfiguren, die auch nach der "Niederlage" weiter an den Schalthebeln der Macht saßen. Man beweinte die gestohlene Jugend und stilisierte sich zur "Generation ohne Abschied" (Wolfgang Borchert). Doch von einer eigenen "Schuld" jener "Jungen", zu denen sich damals auch 40-Jährige zählen durften, war fast nirgendwo die Rede. Stattdessen reklamierte man mit pubertärer Larmoyanz den Opferstatus.

Gerade Borchert wurde als "früh Vollendeter" mit seiner fiebrigen Rambo-Figur Beckmann in dem hochtönenden Heimkehrerdrama "Draußen vor der Tür" begeistert zum unvermeidlichen Signet dieser "Generation" gekürt. Er ist aber, wie der vorliegende Sammelband im Querschnitt verdeutlicht, nur ein Beispiel aus einer Unzahl heute meist unbekannt gewordener Namen, die sich aus vielen inneren und äußeren Gründen schwer taten, schonungslos die Wahrheit zu thematisieren.

Bei der Lektüre der vorliegenden Studien muß man den Kopf über die taktische Verschwiegenheit mancher Mitglieder der Gruppe 47 schütteln, die Platzhirsche wie Thiess aus Karrieregründen und vielleicht auch aufgrund der eigenen Vergangenheit deckten (etwa Alfred Andersch). Auch mag man sich noch einmal ungläubig die Augen reiben angesichts der völkisch grundierten Angriffe Thiess' auf Thomas Mann, der in der "Großen Kontroverse" der Nachkriegszeit aus dem kalifornischen Exil tapfer zurückschlug, alle von 1933-45 in Deutschland entstandene Literatur gehöre grosso modo "eingestampft".

Man darf aber auch viele andere Facetten der frühen Nachkriegsliteratur begutachten: Außenseiter, Ausnahmen und vergessene Einzelleistungen werden ausführlich in Erinnerung gerufen. Ein Name etwa wie der Arno Schmidts (1914-1979) wurde damals überhaupt nicht beachtet. Heute beginnt sich die Qualität seines unkonventionellen "Detailrealismus" durchzusetzen.

Dem panoramatischen Überblick über die damalige Literatur-, Theater- und Rundfunkszene, die der Band mit seinen 24 Beiträgen bietet, fehlt unverständlicherweise das erschließende Register: Es würde seinen Wert bei der Vielzahl der besprochenen Personen und Texte steigern und adelte ihn zum Handbuch, in dem störende germanistische Kollateralschäden nicht mehr so ins Gewicht fielen.

Titelbild

Hans-Gerd Winter (Hg.): Uns selbst mussten wir misstrauen. Die "junge Generation" in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.
Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2002.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3935549172

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